Krankheit und früher Tod in Folge von unbehandeltem Klinefelter-Syndrom

Ich möchte hier von meinem ersten Ehemann erzählen, von dem ich annehmen muss, dass er vom Klinefelter-Syndrom betroffen war. Es führte mit ziemlicher Sicherheit zu großem Leiden und zu seinen frühen Tod im erst sechzigsten Lebensjahr. Leider wies er den Hinweis auf dieses Syndrom und die Therapiemöglichkeit zurück.

Mein Mann kam als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter auf die Welt und wurde im Wesentlichen von seinen Großeltern großgezogen. Bereits mit etwa neun Jahren war er recht stark übergewichtig. Im Schulsport konnte er nicht mithalten. Nach einem hervorragenden Abitur studierte er Medizin, scheiterte jedoch am zweiten Staatsexamen. Er baute sich daraufhin eine berufliche Existenz als Pharmareferent und später als Unternehmensberater auf, die zunächst erfolgreicher später allerdings weniger erfolgreich war.

Nachdem wir geheiratet hatten und die wirtschaftlichen Bedingungen entsprechend waren, wollten wir eine Familie gründen. Nachdem ich aber lange nicht schwanger geworden war, waren bei mir einige möglichen Hinderungsgründe ausgeschlossen worden, und er ließ ein Spermiogramm machen. Der Androloge bescheinigte ihm die Zeugungsunfähigkeit und stellte einen Hypogonadismus fest. Er habe von einem Medikament gesprochen, aber diese Option verwarf mein Mann. Wir bekamen im Lauf der Jahre insgesamt drei Kinder mithilfe von heterologer (oder heute: donogener) Insemination und hätten eine ganz normale glückliche Familie sein sollen. Aber erst als das jüngste Kind sechs Jahre alt war, begriff ich endlich, dass nicht nur ich in der Ehe unglücklich war, sondern es auch den Kindern an etwas fehlte. Es fehlte ganz einfach an zwischenmenschlicher Beziehung zu ihrem Vater. Ich beschloss, mich von ihm zu trennen, was für ihn sehr schmerzlich gewesen sein muss. Die Kinder blieben bei mir. Obwohl es zunächst noch Besuche gab, schliefen die Kontakte zu ihm zunehmend ein.

Im Lauf der Jahre hatte er mit seiner letzten Lebensgefährtin solche Probleme, dass er seinen ältesten Sohn mit Selbstmorddrohungen nötigte, ihm bei der Bewältigung ihrer psychiatrischen Krisen zu helfen, was diesen massiv belastete und schlussendlich zum Kontaktabbruch führte. Zum zweiten Sohn brach das Verhältnis ab, weil mein Mann, der früher in Behördendingen gewissenhaft gewesen war, Zusammenarbeit und Unterschriften bei Bafög-Anträgen verweigerte. Sein Kontakt zu unserer Tochter war da schon lange eingeschlafen.

Wir beobachteten aus der Ferne seinen sozialen Abstieg und seine zunehmenden Krankheiten. Ein Faktor, der dies beschleunigte, war, dass er bis auf einen einzigen Telefonkontakt keine Freunde oder Bekannte hatte. Im Rückblick wurde mir klar, dass er noch nie leicht Kontakt geknüpft hatte. Für ihn war das fast nur im Rahmen einer beruflichen oder sonstigen Funktion möglich.

Ebenfalls im Rückblick wurde mir klar, dass ich, ohne besonders sportlich zu sein, die Kräftigere von uns beiden gewesen war, was sich z. B. bei Gartenarbeit oder bei Renovierungen zeigte. Insgesamt ermüdete er bei allen Tätigkeiten viel zu schnell. Er war noch keine 45, da stellte sein Hausarzt einen Diabetes mellitus Typ 2 fest. Er hielt sich jedoch nicht an die Ernährungsratschläge und nahm die Medikamente unregelmäßig ein. Nach unserer Trennung verschlechterte sich sein Allgemeinzustand rapide, und er verlor stark an Gewicht und Kraft. Einige Jahre später hatte er einen Bypass gesetzt bekommen. Dann wurde er im Lauf der Jahre so immobil, dass er sich die Fersen bis auf die Knochen wund lag. Weitere Aufenthalte wegen diverser Entzündungen folgten. Und nachdem er verstorben ist, haben wir erfahren, welche Erkrankungen sich noch in den letzten Jahren entwickelt hatten: da sind neben einigen Details und dem Bluthochdruck mehrere Diagnosen gestellt worden, die allein das Herz betreffen. Jede einzelne ist schon höchst gefährlich und schränkt massiv ein. Der inzwischen insulinpflichtige Diabetes war völlig entgleist, die Niere war chronisch krank und es war eine nicht altersgemäße Gebrechlichkeit (Frailty-Syndrom) entstanden. Dies muss man sich so vorstellen, dass er einem erschien wie ein gebrechlicher Achzigjähriger.

Bei der Notaufnahme kam er sofort auf die Intensivstation. Er litt an einem akuten Nierenversagen, das heißt, er war total ausgetrocknet, wobei andererseits große Flüssigkeitsmengen an bestimmten Stellen Ödeme gebildet hatten. Infektion lagen nicht nur an den Füßen vor, inzwischen auch im Harntrakt, dazu kam eine Lungenentzündung, eine völlige Übersäuerung und eine durch die Infekte bedingte Blutarmut. Auch unsere Intensivmedizin war nicht mehr in der Lage, ihn zu retten, und er verstarb viel zu jung. Die Prozesse, die im Lauf der vielen Jahre abgelaufen waren, sind nun einmal nicht reversibel.

Ich bin deswegen auch so erschüttert über diesen Verlauf, der mir wie eine Tortur erscheint, weil ich denke, es hätte nicht sein müssen. Wenn er sich der Diagnose hätte stellen können, hätte er das Testosteron substituieren können, dann wäre er kräftiger gewesen, leistungsfähiger, hätte sein Leben aktiver gestalten können. Denn ich war es fast immer gewesen, die Vorschläge machte, die anregte, die organisierte. Die Tendenz zu Depressionen, die wohl auch früher schon, aber sicher in den letzten anderthalb Jahrzehnten stärker gegeben hat, wäre zu vermeiden gewesen. Mit einem Körper mit einer maskulinen Bemuskelung und mit einer helleren Stimmung hätte er die Ratschläge der Mediziner nach gesunder Ernährung und ausreichender Bewegung leichter umsetzen können. Der Diabetes wäre in dem Maß vermutlich gar nicht ausgebrochen, denn der entsteht ja bei unbehandeltem Klinefelter wohl grade in Folge der fehlenden Muskulatur.

Es lässt mich nicht ruhen, dass das Syndrom heute immer noch so selten diagnostiziert wird und darüber hinaus dann oft nicht behandelt wird. „Man sei doch gesund“ wird dann gesagt. Ich hoffe gezeigt zu haben, wie tödlich Klinefelter auf die leichte Schulter genommen sein kann.