Symptome und Begleiterkrankungen
Bei Jungen und Männern mit Klinefelter-Syndrom besteht eine Unterentwicklung der Hoden, das heißt sie bleiben unterdurchschnittlich klein. Das Hodenvolumen liegt bei Betroffenen meist in der Größenordnung von 1-3 ml (ca. Größe einer kleinen Glasmurmel). Da der größte Teil des Testosterons in den Hoden gebildet wird, besteht bei Männern mit Klinefelter-Syndrom daher ein Testosteronmangel.
Testosteron ist das wichtigste männliche Sexualhormon, welches eine vielfältige Rolle spielt. Es ist wichtig bei der Spermienbildung, reguliert die Libido (sexuellen Appetenz oder Sexualtrieb), ist aber auch in ganz anderen Bereichen von Bedeutung z.B. für Fettstoffwechsel, Gefäßfunktion, Psyche, Bildung der roten Blutkörperchen, Knochenstoffwechsel und Haarwachstum (insbesondere Bart, Brust- und Genitalbehaarung).
Ein Testosteronmangel kann daher Symptome in unterschiedlichen Organen/Geweben verursachen (Vergleiche Symptome und Begleiterkrankungen Infobox 7). Diese Symptome können bei Betroffenen mit Klinefelter-Syndrom jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Eine wichtige Folge der Hodenunterentwicklung und des Testosteronmangels ist eine frühzeitig verringerte bzw. fehlende Spermienproduktion. Dadurch befinden sich im Ejakulat entweder zu wenige Spermien (Oligospermie) oder wie bei den meisten Männern mit Klinefelter-Syndrom keine Spermien (Azoospermie). Aus diesem Grund sind die allermeisten Männer mit dem Klinefelter-Syndrom unfruchtbar.
Testosteronmangel-Symptome können sein:
- Überdurchschnittliche Körperhöhe bis hin zu Hochwuchs
- Verminderte Spermatogenese (Spermienbildung), Folge: Unfruchtbarkeit
- Sexuelle Störungen (Libidoverlust, Potenzstörungen)
- Spärlicher Bartwuchs
- Verringerte Muskelmasse und -kraft
- Verändertes Fettverteilungsmuster (Fettaufbau insbesondere im Hüftbereich), Wachstum der Brustdrüsen
- Psychische Symptome wie Müdigkeit, Schlafprobleme, Antriebslosigkeit, erhöhte Empfindlichkeit für Stress, reduzierte Aufmerksamkeit, reduziertes Selbstvertrauen, reduzierte Stimmung bis hin zu einer Depression
- Schweißausbrüche
- Blutarmut
- Knochenschwund (Osteoporose)
- Vergrößerung der Prostata
- Haarausfall
Ja. Männer mit dem Klinefelter-Syndrom haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus Typ II (Alterszuckerkrankheit), Osteoporose (verringerte Knochendichte), Gynäkomastie (Vergrößerung der Brustdrüsen), Depressionen, Epilepsie und das Auftreten von Thrombosen. Das Risiko für Brustkrebs ist bei Männern mit Klinefelter-Syndrom etwa um den Faktor 50 gegenüber Männern mit 46, XY erhöht, liegt jedoch weit unter dem normalen Risiko für Frauen. Da viele Männer mit Klinefelter-Syndrom lebenslang nicht diagnostiziert werden, sind die medizinischen Folgen des Testosteronmangels meist nicht schwerwiegend ausgeprägt. Dies verdeutlicht auch, dass schwerwiegende gesundheitliche Störungen, die durch das Klinefelter-Syndrom bedingt sind, eher die Ausnahme als den Regelfall darstellen.
Beim Klinefelter-Syndrom wird das Hauptaugenmerk der ärztlichen Versorgung meist auf fassbare klinische Aspekte wie z. B. den Testosteronmangel, die Knochengesundheit oder die Zeugungsfähigkeit gelegt. Darüber hinaus gibt es jedoch auch Hinweise darauf, dass das Klinefelter-Syndrom Auswirkungen auf Temperament, Persönlichkeit und seelische Gesundheit haben kann.
Es gilt hierbei in der Theorie zu unterscheiden zwischen den Auswirkungen des Testesteronmangels auf das Gehirn und den psychischen Folgen der Diagnosestellung bzw. deren Konsequenzen. In der Praxis lässt sich das jedoch nicht immer gut trennen. Als besonderer Risikofaktor stellten sich dabei sowohl eine empfundene Stigmatisierung durch Mitmenschen und der Stellenwert einer Familiengründung mit Kinderwunsch in der Zukunftsplanung heraus, der bei Männern mit Klinefelter-Syndrom, wenn überhaupt, nur mit erheblichem medizinischen Aufwand realisiert werden kann. Auch der verminderte Testosteronmangel an sich, kann einen Einfluss auf die Psyche haben.
Im Kindes- und Jugendalter imponieren überzufällig häufig eine gestörte Aufmerksamkeit, manchmal auch eine erhöhte Impulsivität (ADHS). Sprachentwicklungsstörungen treten ebenso gehäuft auf wie Probleme beim Lesen und/oder Schreiben (Lese-Rechtschreibstörungen). So gibt es Hinweise darauf, dass manchmal vorhandene Defizite in der Sprachverarbeitung mit einer besseren visuellen Verarbeitungsfähigkeit einhergehen, was offenbar durch eine unterschiedliche Ausprägung der entsprechenden Gehirnareale mitbedingt ist. Dies schlägt sich wiederum auch in
einer erhöhten zielgerichteten Aufmerksamkeit und einem besonderen Interesse an Details nieder. Im Kindesalter fallen Jungen mit Klinefelter-Syndrom manchmal durch eine Verhaltensweise auf, die im Sinne von autistischen Verhaltensweisen imponieren. Diese sind jedoch nicht so ausgeprägt wie bei einer Autismus-Spektrumstörung. Es handelt sich in erster Linie um ein Verhalten, das durch Zurückgezogenheit, geringeres Interesse an der Interaktion mit Gleichaltrigen und einer besonderen Leidenschaft für Details gekennzeichnet ist.
Manchmal tun sich Jungen und Männer mit KS schwer, zielstrebig ihre Ziele zu verfolgen, ihre Motivation ist erniedrigt. Dies kann sich bemerkbar machen bei Verfolgung von Zielen in der Schule, während der Ausbildung bzw. des Studiums und im Beruf.
Im Jugend- und Erwachsenenalter kommen Depressionen gehäuft vor. Schwerwiegendere psychische Erkrankungen (z. B. Psychosen) kommen eventuell bei Menschen mit KS etwas häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung.
Ein weiterer Faktor, der Zufriedenheit und Stimmung beeinflussen kann, ist die soziale Interaktion mit Mitmenschen. In diesem Bereich scheint es, dass Männer mit Klinefelter-Syndrom manchmal Schwierigkeiten haben, Emotionen bei sich selbst und auch bei ihrem Gegenüber richtig zu erfassen und zu interpretieren. So mag insbesondere die Wahrnehmung von unerfreulichen oder ärgerlichen Gesichtsausdrücken bzw. Tonlagen in der Stimme von anderen Mitmenschen weniger gut zugeordnet werden. Dies wiederum kann manchmal zu Problemen in der gesellschaftlichen Interaktion führen, da das fehlende Erkennen und damit auch Eingehen auf die Stimmungslage des Mitmenschen zu Missverständnissen und Irritationen führen kann.