Ein halbes Leben ohne/mit Klinefelter

Ich bin 1970 geboren, also jetzt 49 Jahre alt.

Das Klinefelter Syndrom wurde bei mir erst zur Musterung bei der Bundeswehr festgestellt – In meiner Kindheit bin ich wohlgehütet aufgewachsen. Spielte mit Jungs und Mädchen im Sandkasten. Während der Grundschule wollte mich meine Klassenlehrerin auf die Sonderschule schicken, da ich bei den Diktaten immer nur in halben Sätzen geschrieben habe. Meine Eltern waren damit nicht einverstanden. So ließen sie einen IQ-Test mit mir durchführen. Der Test fiel überdurchschnittlich gut aus.

Psychologischer Untersuchungsbefund: Stefan war wegen schlechter Leistungen in der 3. Klasse der Grundschule und wegen verschiedener nervöser Tics in der psychologischen Sprechstunde vorgestellt worden. Die Mutter berichtete, dass es vor allem Klagen darüber gegeben habe, dass Stefan extrem langsam sei: er brauche zu allen Leistungen doppelt soviel Zeit wie andere Kinder und werde deshalb bei Klassenarbeiten z.B. nicht fertig. Weil er aufgrund seiner Langsamkeit vieles nicht rechtzeitig mit aufschreiben könne, was in der Schule vorgegeben werde, und dieses dann zuhause nachholen müsse, ausserdem auch für seine Hausarbeiten unverhältnismässig lange Zeit brauche, daure es Stunden, wenn er alles Nötige zuhause erarbeiten wolle. Mit dem zunehmenden Leistungsdruck seien auch Stefans wechselnde mimische Tics entstanden.Stefan erschien in seinem Leistungsverhalten durchaus nicht extrem verlangsamt: im Hamburg-Wechsler-Inelligenz-Test für Kinder erzielte er, auch unter Berücksichtigung seiner Arbeitszeit, überdurchschnittliche Ergebnisse (IQ 122). Darüberhinaus stellte es sich aber dar, dass Stefan sehr selbstunsicher ist und nicht spontan reagieren kann, sondern jeder seiner Äusserungen sehr lange überlegt und abwägt. Darüberhinaus wirkte er in seinem Denken und Handeln noch weitgehend kindlich-verspielt. Überließ man ihn sich in freieren Handlungsabläufen, so verzettelte er sich leicht und erschien zu wenig zügig und zielorientiert. In Bezug auf seine Familie scheint er sich als Jüngster neben seinen aktivieren Eltern und den beiden älteren Geschwistern in einer absolut unterlegenen Rolle zu fühlen, aus der er heraus sich passiv und unselbständig gibt. Ansprüchen von Seiten der Aussenwelt und Auseinandersetzungen mit seiner Umwelt weicht er offensichtlich aus, in dem er sich in die Passivität flüchtet. Der Mutter wird im Laufe der Betreuung empfohlen, zunächst einmal die Hausaufgabensituation zu entspannen und auf ein für sein Alter zumutbares Maß zu beschränken. Im Zusammenhang damit scheinen sich seine Tics zu bessern. Im übrigen scheint es wichtig, dass Stefan sein Selbstbewusstsein und Zutrauen in sein eigenes Leistungsvermögen sich verbessert. Ansätze dazu scheint es zu geben. Indem er zu seiner Klassenlehrerin anscheinend Vertrauen gewinnt und erstmalig in seiner Klasse auch einen freundschaftlichen Anschluss an andere Kinder gefunden hat.

Einmal aus diesen Gründen, weil Stefan Selbstbewusstsein im Klassenverband sich in den letzten Monaten sichtbar gebessert hat und er mit Sicherheit beim Verlust dieser neugewonnenen Beziehungen wieder stark in seine alte Rolle zurückgeworfen würde und zum zweiten, weil bei ihm offensichtlich kein Intelligenz-Mangel, sondern eine Intelligenz-Hemmung vorliegt, die mit der Lockerung seines psychischen Zustandes sich am leichtesten aufheben lässt, wäre es sehr empfehlenswert, Stefan – selbst wenn er das Leistungsziel für die neue Klasse nicht erreicht haben sollte, jetzt nicht aus dem Klassenverband zu entfernen.

Sollten sich bei einer kommenden Versetzung in die nächste Klasse seine Leistungen im neuen ersten Schulhalbjahr nicht verbessern, so würde er eine dann folgende Rückversetzung psychisch sicher leichter verkraften (Dipl. Psych. I. Brintzinger)

Darauf wurde ich um eine Klasse zurückversetzt. Mit der neuen Lehrerin lief es dann besser, ich schrieb gute Noten in Deutsch – besonders bei den Aufsätzen – aber auch in Mathe. Vor und während der Pubertät (die sich bei mir nicht eingestellt hatte), fühlte ich, dass irgendetwas anders als bei meinen Freunden war. Ich zog mich zurück, schwänzte den Schwimmunterricht und ging nach dem Sportunterricht nicht mit unter die Dusche. Es war etwas anders als bei meinen Klassenkameraden. Mit Mädchen konnte ich dagegen schon immer gut. Ich war etwas verzweifelt mit meinen Gefühlen, aber wem hätte ich davon erzählen können? So schwieg ich und behielt meine Gefühle, die durcheinander waren, für mich.

Dann kam die Ausbildung zum Bauzeichner im Tief- und Straßenbau. In dieser Zeit bin ich dann im Sommer zu einer Jugendfreizeit. Hier, raus aus dem alltäglichen Trott, wurde mein Selbstbewusstsein größer. Ich konnte neue Freundschaften knüpfen. Nach meiner Ausbildung begann ich in einem kleinen Möbelgeschäft als Technischer Zeichner für Inneneinrichtungen.

In dieser Zeit zur Musterung mit 19 Jahren wurde mir mitgeteilt, dass irgendetwas bei mir anders war als bei den Freunden. Nach vielen Arztbesuchen erhielt ich die Mitteilung, dass ich das Klinefelter-Syndrom hätte. Ich konnte damals nicht viel damit anfangen, bekam Medikamente und unternahm viele Arztbesuche, die mir aber auch nicht weitergeholfen hatten. Im Gegenteil, ich war oft deprimiert und wußte mit nichts etwas anzufangen. Meiner ersten festen Freundin hatte ich erzählt, dass wir keine Kindern haben könnten, sie reagierte sehr offen darauf. Doch nach einiger Zeit trennten wir uns. Sie erzählte es dann allen meinen Freunden, was mich sehr traurig stimmte. Zu meinem Glück hatte ich es meinen besten neuen Freunden schon erzählt. Insofern war es nicht so schlimm, wie ich es befürchtet hatte.

Danach hatte ich sieben Jahre eine Freundschaft zu einer fünf Jahre Jüngeren. Unsere Beziehung war chaotisch und von Höhen und Tiefen geprägt auf die ich aber nicht eingehen möchte. Die Zeit war einprägsam für mich. Mein bester Freund wurde schwul und meine Freundin lesbisch. Das war ein harter Schlag für mich mit dem ich mich irgendwie abfinden musste.

In der Mitte unserer Beziehung kam es dazu, dass meine Freundin Sex mit meinem besten Freund hatte und schwanger wurde. Ich stand zu ihr, egal ob sie ihr Kind abtreiben oder behalten wollte. Sie war damals erst 16 Jahre alt und entschied sich ihr Kind abzutreiben.

Am Abtreibungstag sollte ihr Jugendpfleger für sie da sein, er kam aber nicht. Meine Freundin lag im Aufwachraum, unten blutig und schrie vor Schmerzen. Der Kindeserzeuger kam auch nicht – Für mich war es ein schreckliches Erlebnis. Danach vergingen viele Monate und irgendwie lebten wir uns auseinander, als sie eine Frau kennenlernte. Ich zog mich mehr zurück. In der Arbeit konnte ich mich auch nicht mehr so richtig einbringen, trennte mich von meiner Freundin und hatte erste lebensmüde Gedanken. In den letzten Jahren hatte ich mehrmals versucht mir die Pulsadern aufzuschneiden und mich zu ritzen. Ich wußte nicht weiter.

Einige Zeit später suchte ich mir Hilfe. Ich wollte wieder leben und geriet an einen guten Arzt, welchen mir die Nachsorgeklinik empfohlen hatte. Eine sehr engagierte Ärztin wies mir dann den Weg in die Selbsthilfegruppe der klinefelter Syndrom Vereinigung. Hier gab es endlich Menschen, die die gleichen Probleme wie ich hatten und mit denen ich reden konnte. Nun gehe ich schon seit vielen Jahren zu den Treffen der Selbsthilfegruppe für das Klinefelter-Syndrom in Regensburg. Hier versuche ich mir und anderen Betroffenen im Austausch zu helfen.