Depression: Unser Leben braucht stets den Plan B …

Wann ist man depressiv? Eine schwierige Frage in Zeiten, in denen das „BurnOut“-Syndrom grassiert und wir rasch bei einer Erschlaffung, bei einer Trauer, bei einer ganz gewöhnlichen Gefühlsreaktion auf äußere Umstände meinen, wir könnten bereits in einer Depression stecken. Seit die Aufklärung über diese Erkrankung zugenommen hat, ist sicherlich auch die Zahl der Diagnosen gestiegen. Denn das Bild der Depression hat sich gewandelt, die Anforderungen an das Krankheitsbild wurden herabgesetzt und andere Erkrankungen wie die Neurasthenie, das Erschöpfungssyndrom oder eben das Ausgebranntsein blieben zugunsten oder zulasten der Depression eher weniger beachtet. Dabei mag es oftmals auch schwierig sein, das Ausmaß einer tatsächlich depressiven Phase für diejenigen zu erfassen, die diese noch nie erlebt haben.

Es mag überheblich klingen, aber ich konnte mir selbst lange nicht vorstellen, wie depressiv man wirklich sein kann. In den Jahren, als ich mit einer Zwangserkrankung kämpfte, schob ich Vieles rasch auch auf eine Depression, vielleicht, weil sie eher in Mode war und der Außenwelt noch leichter vermittelt werden konnte als ein Händewaschen, Kontrollieren oder Zählen. Dabei war es anfangs sicher die früher noch als „Reaktive Depression“ beschriebene Anpassungsstörung, von der ich geplagt war, als ich eingestehen musste: Mein Leben verläuft nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Träume müssen wir alle aufgeben, auch Hoffnungen und Ziele. Doch wie oft muss es sich denn tatsächlich vollständig umkrempeln, ehe wir erkennen, dass all das, was wir uns vorgenommen hatten, wahrhaftig nicht mehr Wirklichkeit werden kann?

Kein Studium, nicht die Ausbildung, nach der man sich gesehnt hatte, eine frühe Schwerbehinderung, körperliche und seelische Leiden gemeinsam, eine zunehmend eingeschränkte kognitive Fertigkeit, rückläufige Selbstständigkeit im eigenen Leben – all das zu fassen und dann auch zu ertragen, es war für mich nicht immer einfach. Nachdem ich mein Abitur absolviert hatte und mit Beginn des Studiums schwere Ängste entwickelte, begann ein Übel, das sich bis heute hinzieht. Mittlerweile berentet, frage ich mich nicht selten nach dem Sinn, der mir bleibt, wenn all das, was ich mir ausgemalt hatte, in den Fingern zerrinnt. Nein, es ist kein Mitleid mit mir selbst, es ist eine Fassungslosigkeit, ein Fragen nach dem „Warum“, das völlig normal ist, denn es ist menschlich. Und wir alle existieren doch davon, uns täglich neu zu fragen, was wir eigentlich auf dieser Welt sollen und wollen.

Natürlich fallen die Antworten ganz unterschiedlich aus: Bei manchen Menschen geht es in Krisenländern um das reine Überleben, da ist die Vision nur, nicht in Qualen sterben zu müssen. In unseren Breiten, in denen wir Wohlstand erleben und selbst die Ärmsten vergleichsweise noch immer die Perspektive haben, ein „soziokulturelles Existenzminimum“ erreichen zu können, sind es andere Überlegungen, die wir über das Hier und Jetzt, vor allem aber auch über das Zukünftige anstellen. Diese Unsicherheit plagte mich rasch als wesentliches Thema einer Spirale, in der ich Sorgen aus meinen teils psychotisch anmutenden Zwangsgedanken mit der Wirklichkeit vermischte und mich fragte: Gibt es einen Grund, morgens noch aufzustehen? Einem Beruf war ich zwar in geringfügigem Umfang schon alleine deshalb noch nachgegangen, weil ich ansonsten verrückt geworden wäre in meiner eigenen Definition, Existenz rechtfertige sich allein über Leistung.

Die Freiberuflichkeit ließ viel Spielraum, im Bett liegen bleiben zu können. Und das nicht aus reiner Lustlosigkeit, sondern aus dem einfachen Umstand heraus, gar nicht die Decke vom Kopf zu bekommen, die man sich weit über den ganzen Körper gezogen hatte, als Schutz einerseits vor den „Gefahren“ des Alltages, andererseits als Zeichen, nicht gestört werden zu wollen und sich gleichermaßen im Dunkeln unter ihr noch viel stärker in ein Karussell aus Hoffnungslosigkeit, bemitleidenden Gedankenphrasen und Glaubenssätzen der Wertlosigkeit, aber auch ganz ernst gemeinten Grenzen körperlicher Fähigkeiten, Traurigkeit mit einer eingefrorenen Emotionalität, die nicht mehr weinen ließ, obwohl man es sich so gewünscht hatte, um den angesammelten Druck aus Wut, Enttäuschung und Hilflosigkeit endlich Raum zu lassen, einzusteigen und weitere Runden zu drehen, bis der ersehnte Abend endlich gekommen war und man ohne Pause ins Schlafen übergehen konnte.

Den Tag nicht nur vertrödeln, sondern ihn bewusst an sich vorbei ziehen zu lassen, sich zu wünschen, dass diese Stunden endlich vorbeigehen mögen, mit einem zaghaften Wunsch, dass diese Depression sich endlich lindern möge oder man endlich erlöst würde. Dabei war zumindest immer die Perspektive, vielleicht könnte es doch noch therapeutische Maßnahmen geben, die diese Tiefe, in der man hockte, ohne sich wie in einer tiefen Felsspalte gefühlsmäßig noch in irgendeine Richtung zu bewegen, überwinden ließe. Doch über Tage, über Wochen und Monate verging ein Zeitraum des Grauens, in dem nichts schwingte, wie ein Psychiater sagen würde, in dem man froh gewesen wäre, zumindest der unendlichen Bewegungslosigkeit in jeglicher Hinsicht entfliehen zu können. Doch nichts hörte, die Beine und Arme nicht, der Kopf nicht. Zumindest hatte ich es mit viel Kraftanstrengung zwischendurch geschafft, noch die wichtigsten Termine wahrzunehmen, die Anschluss an die Realität erlaubten. Denn dafür war ich zu perfektionistisch, konnte mich nach dem schwersten Abschnitt der physischen und psychischen Lähmung, der körperlichen wie seelischen Schmerzen, des sich drehenden Gehirns um die immer wieder gleichen Sorgen, Nöte und Ängste, aber auch um die alleinige Leere, die wohl am schlimmsten war, wieder ein wenig zusammenreißen, um den Schein zu wahren.

Da nahm ich Termine wahr, um niemanden glauben zu lassen, dass ich wahrhaft depressiv sein konnte. Galt ich doch stets als der humorvolle, der überaus freudige und empathische junge Mann, der gelassen und ausgeglichen wirkte, stets zugewandt und emotional empfindsam. Ja, mit Anderen war das auch so. Mit mir konnte ich so aber nicht umgehen. Und das versteckte ich stets hinter einem Lächeln, hinter einer Fassade aus Zufriedenheit. Natürlich konnte man am Ende kaum noch unterscheiden, welches körperliche Gebrechen nun die Psyche beeinflusste – und gleichsam umgekehrt. Man war versunken im Meer des Überlebens, in welchem man sich von Eisscholle zu Holzresten über Wasser hielt, den Horizont in der Weite zwar immer sichtbar, aber auf absehbare Zeit keinen festen Halt, dafür Kälte und das Verfrorensein in den Gefühlen, in den Reaktionen, in den Gedanken, aber auch in der Freiheit des Körpers, in der Empfindung von Schmerz und Entspannung, die man nicht mehr steuern konnte, weil sie eingepresst waren in die Schwere von Ballast, der zweifelsohne nur bedingt realistisch, subjektiv aber erdrückend war.

Depression war bei mir – wie sicherlich bei vielen Anderen auch – nicht das Traurigsein, auf die man sie stets reduziert. Denn man wäre froh gewesen, diese Emotion überhaupt spüren zu können. Doch es war nichts, es war viel eher die Frage, die in unserer Gesellschaft tabuisiert wird: Der Wegbruch von Sinnhaftigkeit, von Beschäftigung, von Ablenkung, von Hobby, sozialen Strukturen, Aufgaben und Möglichkeiten, auf dieser Welt irgendwelche Spuren zu hinterlassen, um selbst aber auch Momente genießen zu können, um am Ende nicht sagen zu müssen, man habe überlebt, aber eben nicht gelebt, der ins Bodenlose hat fallen lassen und in den prekärsten Phasen auch darüber nachdenken lässt, ob man diesen luftleeren Raum länger hinnehmen will, denn niemand wusste, wie lange sie andauern würde, ob die Depression jemals enden würde.

Natürlich hätte man sich an die Hand nehmen lassen können, doch wer vor Statuen aus Stein steht, der weiß, wie schwer es ist, sie auch nur zentimeterweise zu verschieben. Über Jahre ein Durchhängen in der Depression, umrankt von hypomanen Episoden, in denen schlichtweg vergessen war, dass man doch gestern noch hätte vom Bildhauer begutachtet werden können, bearbeitet mit Hammer und Meißel. Da haben es auch Angehörige schwer, anzuschieben, vom Boden hoch zu holen, aus den Fluten des Nichts zu bergen. „Streng dich doch an!“, solch vielleicht noch gut gemeinten, aber vollends wirkungslosen Aufforderungen sind in der wirklichen Depression so wertvoll wie der Sand in der Wüste, in der Oasen nur eine Fata Morgana sein dürften. Es gilt, mit Medikation und in den Augenblicken, in denen sich in der Höhle aus Bettdecke, Jalousien, abgedunkeltem Zimmer und der Starre des Blickes an das gewebte Muster des Kopfkissens ein Spalt auftut, psychotherapeutische Intervention in Anspruch zu nehmen, die mich glücklicherweise zurückbrachte von der allerschwersten in die schwere Depression, auf der man aber – im positiven Sinne –aufbauen konnte.

Denn wenn einmal ein Zipfel der Bettdecke entrissen werden kann und ein Lichtstrahl die Ruhe vor und nach dem Sturm durchbricht, dann sind es die Ressourcen, die den depressiven Menschen auf den Pfad führen können, der auch vor der Erkrankung durch das Leben getragen hatte. Bei mir war es nach Jahren der Glaube, ob nun an einen Gott oder viel eher, dass wir dieses eine Dasein im Hier und Jetzt doch irgendwie nutzen sollten, um für uns und unsere Nächsten etwas zu erreichen, etwas zum Guten zu wenden, etwas zu hinterlassen, was nicht Anerkennung bringt, wohl aber den Eindruck hinterlässt, dass man dagewesen ist – und nicht nur sein Bett, sondern mehr benutzt hat, um zu gestalten. Mit Musik beispielsweise. Sie war ein Mittel, das oft mehr bewirkte als eine Tablette. Denn selbst in Momenten, in denen das Eis nur angetaut war, konnte manch ein Klang erlösen von der Dicke des Eises, konnte mich begeistern für den Gang zum CD-Player, um die Lautstärke etwas zu erhöhen und nach Tagen oder Wochen wieder den Boden der Wohnung außerhalb von Schlafzimmer, Toilette und Küche zu betreten. Oder das Ehrenamt, die Selbsthilfe, die bestärkten, dass wir uns an die Hand nehmen können. Zwar zieht man sich als Gruppe nur schwer aus dem treibenden Schlamm, aber gemeinsam findet man eher diesen Ast, um sich daran vielleicht nacheinander hochziehen zu können.

Es gibt nicht die guten Ratschläge, denn ich selbst brauchte Kraft, um mir zu überlegen, welches meine Ankerpunkte sind, wenn ich wieder in die Weiten des Ozeans aus anfänglichen Tränen, späterer psychischer Dürre und viel später eigens aufgetragenem Zement wegzudriften drohe. Wenn gleichsam viele Ursachen in unserem Stoffwechsel, in der Biochemie des Gehirns zu suchen sind, haben auch wir in den allermeisten Fällen Einflüsse auf unsere Depression. Da sind es die Versäumnisse, auf Lebensumbrüche rechtzeitig und adäquat zu reagieren, möglicherweise, weil man sich unnötig, aber verständlicherweise geschämt hatte, weil man Stärke beweisen wollte und nicht zu denken vermochte, dass man einknicken könnte. Nicht aufgearbeitete Wunden, die zwar vernarbt sind, aber nie richtig behandelt wurden, vor allem im seelischen Sinne. Die fehlende Stresskompetenz, die Fähigkeit, mit selbstzerstörenden Botschaften des eigenen Ichs oder aber des neidischen Gegenübers so umzugehen, dass daraus keine Spiralen der Unendlichkeit werden, die den Sog eines Wirbelsturms nach unten bilden, immer weiter nach unten.

Vorbeugung ist durchaus möglich, sie wäre auch in meinem Fall verbesserungswürdig gewesen. Denn wir brauchen Pläne B für dieses Leben, wir benötigen die Bereitschaft, uns auf Ausweichrouten zu begeben, die im ersten Augenblick weniger ansprechend erscheinen mögen als der steile Weg nach oben, die Karriereleiter oder das Streben nach Vollkommenheit in Geld und dem Ansehen. Wir benötigen sinnstiftende Abwechslung, wir brauchen Hobbys und wirkliche Freunde, abseits von „Facebook“, die eben wirklich nahbar sein können, vorbeikommen können, wenn es wirklich eng wird. Wir benötigen Bojen auf der rauen See, die nun mal unser Dasein abbildet, wir können uns nicht daran gewöhnen, dass alles stets problemlos laufen wird. Denn die Abstürze sind umso gefährlicher, je weniger man vorgesorgt hat. Glücklicherweise kann ich heute in der Rückschau auf manche kaum noch erträgliche Episode der Depression feststellen, dass ich zwar nur ein einziges Fangnetz eingebaut hatte, aber zumindest doch eines. Und das wünsche ich uns allen, aufrichtig und ehrlich auch denen, die heute noch fröhlich strahlen, die aber ebenso wie ich nicht wissen, was morgen kommen kann…

Dennis Riehle