„Der Zucker geht mir tierisch auf die Nerven!“

In meinem laienhaften Verständnis zu Zeiten vor meiner Diabetes-Erkrankung wäre ich im Traum nicht auf die Idee gekommen, wonach Zucker und Nerven etwas miteinander zu tun haben könnten – und wenn, dann überhaupt im Positiven: Denn nach meiner damaligen Ansicht handelte es sich bei Glucose um einen Energieträger, den eigentlich jeder gut gebrauchen kann, um letztlich optimal zu funktionieren. Doch mittlerweile habe ich Selbsterkenntnis betrieben und folgere: Das „Wieviel“ macht den Unterschied!

Im derzeitigen Jahrhundert ist gerade Diabetes Typ 2 in der westlichen Welt auf dem Vormarsch – und mit ihm leiden nicht nur immer mehr Betroffene unter einer unausgewogenen Blutzuckerkonzentration, sondern auch an den mannigfaltigen Folgeerkrankungen, welche bedauerlicherweise noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Das wurde auch mir bewusst, nachdem ich über Jahre meiner fortdauernden Zuckerkrankheit trotz oraler Arzneimittelgabe und Insulins weiterhin unter regelmäßigen Hyperglykämien litt, obwohl ich eine konsequente Nahrungsumstellung betrieb und mich fortan viel bewegte.

Sicherlich ist vielen Erkrankten die diabetische Retinopathie bekannt, die bestimmt als eine der häufigsten Konsequenzen von lange Zeit nur schlecht eingestelltem Blutzucker gilt und sich besonders heimtückisch äußert: Viele Betroffene merken von den Veränderungen an den Blutgefäßen der Netzhaut oder dem Austritt von Flüssigkeit in den Glaskörper kaum etwas, weshalb nicht selten ein schnelles Voranschreiten der Minderdurchblutung zu massivem Sehverlust führt. Und auch wenn ich von einer diesbezüglichen Augenerkrankung bislang verschont geblieben bin, schlug der Diabetes an anderer Stelle umso konsequenter zu: Nachdem ich vergleichsweise recht früh nach Ausbruch der Zuckerkrankheit bereits Symptome an den Füßen und Händen bemerkte, wurde ärztlicherseits klar, dass ich besonders an einer Stelle gegenüber dem Diabetes empfindlich reagieren würde: den Nerven…

Was erst mit einer „Small-Fiber-Neuropathie“ begann, entwickelte sich später zu einer sensomotorischen Polyneuropathie obenauf. Zunächst konnte ich die klassischen Anzeichen von kribbelnden Beinen, stechend-brennenden Schmerzen in den Extremitäten, sockenförmig begrenzter Herabsetzung des Vibrationsempfindens, einem zuschnürenden und angespannten Gefühl der Knöchel sowie einer allseitig herabgesetzten Schmerzsensibilität bemerken. Auch die Wahrnehmung, als ob ich auf Watte laufen würde, stellte sich vermehrt ein. Die Folge waren ein unsicherer, torkelnder Gang – und ein generalisiertes Missempfinden der Haut.

Als ursächlicher Mechanismus dürften die vielen Zuckermoleküle im Körper Verbindungen mit Proteinen eingehen, deren Reaktion auf die nervlichen Strukturen dauerhaft schädigend wirken. Gleichsam entwickeln Diabetiker mit der Zeit nicht selten eine Mikroangiopathie, also eine durch den Zucker ausgelöste Erkrankung der kleinsten Blutgefäße im Organismus, die für die Versorgung der Nerven mit Sauerstoff und Nährstoffen verantwortlich sind. Ist diese Funktion nachhaltig gestört, können Nervenzellen anfangs ihre Tätigkeit vermindern, allerdings perspektivisch sogar absterben. Deshalb bleibt die Blutzuckerregulation das „A und O“.

Da aber nicht nur die peripheren, also die körperfernen, Nervenstränge von einer diabetischen Schädigung betroffen sein können, war es letztlich erwartbar, dass auch autonome Nerven – die vor allem die Tätigkeit der Organe steuern – irgendwann von Störungen betroffen sein würden.

Denn überall dort, wo Aktivitäten von Körperstrukturen durch willkürliche oder ungewollte Mechanismen durch nervliche Impulse gelenkt werden, kann es gerade bei einem langfristig schlechten HbA1c-Wert („Langzeitzucker“) letztlich zu Beeinflussungen der regelhaften Abläufe kommen. Und genau dieser Schwachpunkt wurde bei mir in mehrfacher Hinsicht getroffen.

Nachdem ich anfangs wenig mit den Symptomen anfangen konnte, war dem Hausarzt und Neurologen recht schnell klar, dass in der diabetischen Neuropathie (Nervenkrankheit) der Grund dafür liegen sollte: Zunächst nur bei sehr heißem Wetter, war es mir später bei jeder Temperatur nach dem Aufstehen aus der Liegeposition schwindelig geworden, „schwarz“ vor den Augen, kaum noch Stehvermögen und schlussendlich folgende Synkopen (kurze, kreislaufbedingte Bewusstseinsstörungen) mit anschließenden Stürzen. Die sogenannte „Orthostatische Dysregulation“ konnte rasch nachgewiesen werden, nachdem vegetative Untersuchungen zu meinen Ungunsten positiv verlaufen waren und ich zum Zeitpunkt der Schwindelanfälle wiederkehrende Blutdruckwerte (RR) von höchstens 75/35 mmHg verzeichnen konnte. Durch die neuropathische Schädigung fällt der Stabilisierungsmechanismus aus, welcher den Blutdruck des Menschen bei Lagewechseln entsprechend anpassen und somit ein Absacken des RR insofern vermeiden würde.

Und auch auf die Muskulatur meines Magens hat die diabetisch bedingte Nervenstörung mittlerweile einen wesentlichen Einfluss: Immerhin kann ich mich seit Monaten nur noch von Schonkost ernähren, weil das Organ seine Verarbeitungsgeschwindigkeit aufgrund der fehlenden und beeinträchtigten Impulse des Vegetativums abgesenkt hat. Stets das Gefühl, als ob man bereits nach wenigen Bissen fester Nahrung einen Kloß im Oberbauch habe, sowie häufiges Aufstoßen mit einem Völleempfinden und Blähungen. Auf die Idee einer zuckerbedingten Gastroparese, also einer inkompletten Magenlähmung, kam mein Nephrologe, nachdem diese Begleiterscheinung des Diabetes insgesamt doch eher selten auftritt – und er wurde in seiner Annahme nuklearmedizinisch bestätigt.

Dass ich nebenbei auch einen vermehrt schäumenden Urin wahrgenommen habe und die als typische Folgeschädigung des Diabetes nachweisbare Mikroalbuminurie (vermehrte Eiweißausscheidung über den Harn) anhand von ärztlichen Testungen bewiesen wurde, brachte mir die weiteren Verworrenheiten der Zuckerkrankheit deutlich vor Augen. Den dass das Ausmaß meiner Nierenschädigung bereits nach wenigen Jahren der Betroffenheit jenes einer Proteinurie (also die größeren Eiweißmoleküle in einem umfangreicheren Ausmaße betreffend) angenommen hatte, belegte letztendlich überaus eindrucksvoll, welch große Macht der Diabetes haben sollte. Dass selbst der Mund von ihm betroffen sein kann, erklärte mir auch mein Zahnarzt, den ich aufgesucht hatte, nachdem ich trotz bester Pflege an wiederkehrender Gingivitis mit entzündetem und blutendem Zahnfleisch litt – und schon zunehmend hilflos war.

Und so wurde mir nicht nur bei der diabetischen Nephropathie bewusst, dass die Bandbreite der Folgen einer langandauernden Zuckerkrankheit derart groß sein kann, wonach es einer ständigen Wachsamkeit bedarf – und das auch bei Organen, die man zunächst vielleicht nicht auf dem Schirm hat: So stellte sich in meinem Falle eine nicht-alkoholische Fettleberhepatitis ein, die nicht allein aufgrund meiner genetischen Veranlagung derart ausgeprägt ist, sondern durch eine diabetisch mitinduzierte Störung des Fettstoffwechsels bei besonderem Schwerpunkt auf die Neutralfette der Triglyceride begründet wird. Dass damit auch die Gefahr einer Arteriosklerose steigt, wurde mir vom behandelnden Facharzt drastisch und ermahnend vor Augen geführt – und im gleichen Atemzug auch noch erwähnt, dass eine durch den erhöhten Blutzuckerspiegel beginnende Osteoporose vorliegen würde.

Damit all das aber nicht so klingt, als ob ich die Begleiterkrankungen des Diabetes mellitus einfach so aneinanderhänge und aufzähle, ohne jedweden Optimismus zu verbreiten, soll am Ende doch festgehalten werden: Derartige Leidensgeschichten sind Mahnung und Ermutigung zugleich. Denn wir sind gerade dem Typ 2-Diabetes nicht hilflos ausgeliefert. Als Ernährungsberater weiß ich um die vielen Möglichkeiten, das eigene Essverhalten und die Auswahl der Nahrungsmittel anders zu gestalten. Zwar ist damit ein durchaus einschneidender Lebenswandel verbunden, jedoch sind die Erfolge zurückgehender Hyperglykämien allemal ein wertvoller Ansporn. Und auch, wenn in vielen Fällen eine diätetische Maßnahme nicht ausreicht, um zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen, appelliere ich an Betroffene gleichermaßen mit Herzblut, den regelmäßigen Gang zum Hausarzt und Diabetologen nicht zu scheuen.

Der Umgang mit dem Diabetes kann gelingen, im Zweifel auch durch konsequente Antidiabetika und die Verabreichung von Insulin. Und selbst wenn sich Folgeerkrankungen nicht immer vermeiden lassen: Ob es nun schmerztherapeutische Interventionen sind, fettsenkende Medikamente, die Förderung der Magenentleerung, eiweißärmere Ernährung im Einzelfall oder Selbsthilfetechniken zur Bewältigung von Kreislaufentgleisungen und der Verarbeitung psychosozialer Herausforderungen durch den Diabetes mellitus: Man kann die Begleiterscheinungen der Zuckerkrankheit in Schach halten, selbst wenn man sich angesichts der vielen Aufgaben von Prävention und Behandlung verständlicherweise überfordert sieht. Dennoch gibt es keinen Grund zur Verzweiflung, viel eher soll uns die Vielfalt an Hilfestellungen von heute deutlich machen, dass wir nicht alleine sind – gerade dann nicht, wenn der Zucker nervt…

Dennis Riehle