Was mache ich mit dem Holz der ausgerissenen Bäume?

Es war ein Erdbeben in Asien, das im Blick aus heutiger Perspektive der Beginn einer Krankheit war, die weder ich, noch meine Bezugspersonen früh genug erkannt hatten. Ich war ein noch junger Mensch, kurz vor dem Abitur, hatte zwar Geld gespart, war aber keinesfalls derart reich, dass ich mit den Scheinen nur so hätte um mich werfen können.
„Kannst du bitte diese Überweisung mitnehmen?“, bat ich meinen Vater eines Tages, nachdem die Spendenaufrufe über das Fernsehen verbreitet wurden. „50 Euro? Bist du dir wirklich sicher?“, fragte er mich. „Ja, ich muss doch helfen“, entgegnete ich ihm. Und noch ahnte er nicht, dass das der Anfang von Tausenden von Euros sein könnte, die in den nächsten Jahren an unzählige gemeinnützige Zwecke gingen. Das Hochwasser in Deutschland, die Waldbrände in Südeuropa, die Opfer des Krieges im Irak, die Obdachlosen nach den Überschwemmungen in Indonesien und die Hungertoten von Afrika waren nur einige ausgewählte Beispiele, für die ich fortan über diverse Hilfsorganisationen spendete.

Wenige Stunden, nachdem ich eine Überweisung ausgefüllt hatte, zog ich mich in mein Zimmer zurück. „Was hast du da eigentlich getan?!“, murmelte ich vor mich hin. Und ich sah mir mein Sparbuch an, auf dem es gar nicht so üppig aussah, wie ich immer dachte. Und dann kam da ja auch noch das Studium, das Geld kosten würde. Ich legte mich auf mein Bett, zog die Decke bis weit nach oben. Irgendwie kreisten die Gedanken um Nichts, so empfand ich es zumindest. Emotional ärgerte ich mich zwar kurz über mich selbst, aber dann verlor ich mich wieder in einer Leere, in der gefühlsmäßig null in mir stattfand. Nach knapp drei Stunden kam meine Mutter besorgt zu mir. „Was ist denn los, warum schläfst du um diese Zeit?“. Ja, seitdem ich Medikamente für meine Zwangserkrankung genommen hatte, die schon seit Jahren diagnostiziert war, prägte sich die Müdigkeit bei mir aus. Doch das war es in diesem Fall nicht. Dass eine kurze, depressive Phase dahinter stehen könnte, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ermessen.

Ich stand auf, und mir fiel ein, dass ich da einen Werbebrief bekommen hatte, von einem Kinderdorf, das Paten für einen Waisen in Osteuropa suchte. „Nur 30 Euro im Monat für ein gutes Leben, das werde ich doch verkraften können“, sagte ich mir – und füllte den Fragebogen aus, der mich kurze Zeit später die erste Post von meinem Patenkind erhalten ließ. Nach dem Abendessen kalkulierte ich durch: 360 Euro im Jahr. Wie lange würde ich das durchhalten? Aber jetzt wieder absagen? Die zählen doch auf mich, was hinterlässt das für einen Eindruck, wenn ich die Patenschaft nun schon wieder beende? Und außerdem wollte ich doch mithelfen, dass die Welt etwas besser wird! Euphorisiert füllte ich gleich eine Überweisung aus und ließ meinem Patenkind 20 Euro extra zukommen, darüber würde es sich sicher freuen. Doch dachte ich dabei auch an mich? Mein Vater tuschelte mit meiner Mutter, nachdem ich ihm also wieder ein Überweisungsformular in die Hand gedrückt hatte.„Ich spreche mal mit seinem Therapeuten“, hörte ich da heraus. Aber was sollte der denn jetzt mit meinem Patenkind in der Ukraine zu tun haben? Ich verstand in diesem Augenblick die Zusammenhänge nicht.

Einige Tage später setzte sich meine Mutter recht sorgenvoll an meine Seite. „Sind denn deine Zwänge schlimmer geworden? Oder warum überweist du so viel Geld?“. Meine Antwort war recht eindeutig: „Ich muss diesen Menschen doch helfen. Wer hilft ihnen denn sonst, wenn nicht ich?“. „Ja, ja, du rettest die Welt“, frotzelte sie vor sich hin. Und mir kam in diesem Moment der Gedanke an einen Entlassbericht aus einer Klinik, in der ich schon vor einigen Monaten zuvor gewesen war. Eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ hatte man mir dort diagnostiziert. Narzissmus, das würde doch gut mit diesem „Ich“ zusammenpassen, das ich immer wieder in meiner Wortwahl, aber auch in meinem Tun bemerkte. Aber es kam auch noch ganz anders. „Wofür brauchen wir denn kiloweise von diesem Druckerpapier“, fuhr es meinem Vater einige Wochen später heraus. „Na ja, es war im Angebot und da dachte ich…“. Er unterbrach mich: „Und wie hast du das bezahlt?“. „Über Lastschrift, das geht doch ganz einfach“. „Ja, eben, das ist ja das Problem“. Nachdem in den folgenden Tagen immer mehr hinzukam, Druckerpatronen, Schulhefte, Schreibutensilien, wurde sie ungehalten: „Wofür brauchst du das denn?“, wollte meine Mutter wissen. „Für die Schule…“. „Kind, du bist jetzt noch acht Monate am Gymnasium, dann kommt vielleicht ein Studium, reicht es nicht, wenn du das nach Bedarf anschaffst?“. Ich verstand das nicht, war es doch gerade alles so billig – und das konnte man doch immer gebrauchen.

Nachdem ich mich wieder in mein Bett zurückgezogen hatte, kreisten die Gedanken dieses Mal um eine andere Frage: „Warum sind denn alle gegen mich? Was mache ich falsch?“. Ich fand mich in einer Spirale der Selbstkritik wieder, auch wenn ich gar nicht wusste, was denn eigentlich mein Fehler sein sollte. Dass man eher das Beste für mich wollte, das konnte ich –wie Viele in ähnlichen Situationen – natürlich nicht nachvollziehen. Stattdessen baute ich in mir langsam wieder eine Trotzreaktion auf, in der Mathematik würde man sagen, die Kurve arbeitete wieder auf einen Wendepunkt zu, denn immerhin war ich im Grunde doch davon überzeugt, das Richtige zu tun. Es stellte sich ein Dauerzustand ein, der sich insgesamt über vier Jahre hinwegzog. Es wechselte zwischen Schreibtisch und meinem Bett, zwischen Ausfüllen von Überweisungen und großer Ratlosigkeit, Traurigkeit, Mutlosigkeit. Und recht plötzlich war Schluss damit. Eine drei Jahre andauernde Phase war fortan geprägt von einer alleinigen Deprimiertheit. Ich hatte das Studium abbrechen müssen, nachdem meine kognitiven Leistungen nicht mehr ausgereicht hatten. Ich konnte aufgrund neurologischer Störungen nicht mehr Vollzeit arbeiten. Und irgendwie zerbrach innerhalb weniger Monate eine ganze Lebensvorstellung, meine Träume und Sehnsüchte, die Ziele, die ich mir gesetzt hatte.

Meine Eltern wiederum waren diejenigen, die mich auffingen. „Du lebst doch nicht für die Leistung!“. Das sagten die so einfach einem Sohn, der darauf bedacht war, Leben über den Erfolg zu definieren. Dabei ging es vor allem um dieses Gute für die Menschen. Nicht für mich wollte ich die Ergebnisse erzielen, sondern für jene, die mich brauchten. Und aus dieser Überzeugung wuchs rasch die Notwendigkeit heran, ich müsse mich doch ehrenamtlich stärker engagieren, wenn ich doch schon auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht mehr so richtig zu gebrauchen war. Eine Selbsthilfegruppe gründete ich, noch eine und noch eine. Und zwischendurch übernahm ich den Vereinsvorsitz hier, den Schriftführer-Posten dort und für die Protokolle war ich sowieso überall zuständig, wo ich nur hinkam. Und manches Mal hatte mein Tag plötzlich mehr Stunden, als es bei einem regulären Job der Fall gewesen wäre. Gut, ich war langsam in meinen Tätigkeiten aufgrund meiner Einschränkungen. Aber ich hatte diese Aufgaben übernommen und aus meiner Gewissenhaftigkeit heraus, die ich als Tugend von Kindheit an hochgehalten hatte, musste ich diese auch erfüllen. Und so war eigentlich vorprogrammiert, dass sich eine neue Achterbahn auftun würde, die mich schlussendlich psychisch, aber auch körperlich an den Rand dessen brachte, was man noch hätte verkraften können.

„Herr Riehle, können Sie uns eine Zusammenfassung dieser Sitzung bis morgen fertigen?“ –Natürlich konnte ich das. Und in der Erkenntnis meiner narzisstischen Eigenschaften fühlte ich mich auch „gebauchpinselt“, denn immerhin traute man mir etwas zu, es war doch eine Ehre, in öffentlichen Gremien so eine Arbeit zugesprochen zu bekommen. Gut, finanziell bekam ich dafür nichts, am Anfang aber wenigstens Anerkennung. „Herr Riehle, könnten Sie die Dokumentation zu diesem Abend schreiben?“ – Selbstverständlich konnte ich auch das. Und zwischendurch noch einen Termin für ein Pressegespräch, für einen Arbeitskreis und für eine Vorstandssitzung. Plötzlich verzeichnete mein Kalender acht Termine für einen Tag. Immernoch einen hinzu, denn der Herr Riehle würde das schon schaffen. Der schafft alles. Der kann im Zweifel auch fliegen und wenn es sein muss, vielleicht auch Gott spielen. Meistens reichte diese Vermutung aber nur bis am Vortag solch eines Marathons an Verpflichtungen, die ich nie hätte einhalten können. „Mama, kannst du da vielleicht anrufen und absagen?“, bat ich sie – und wie ich meine Mutter kannte, wusste sie nicht, was sie dagegenhalten sollte. Ich zog mich währenddessen wieder ins Bett zurück. „Ich bekomme das eben doch alles nicht auf die Reihe“, so flüsterte ich mir selbst zu. Und irgendwie stand ich vor dem Scherbenhaufen einer falschen Planung, die geprägt war von einer vollkommen fehlerhaften Selbsteinschätzung. Aber es ging ja auch um meine Ruf. Was würde man sagen, wenn ich nun reihenweise Termine „canceln“ müsste? Wäre ich überhaupt noch etwas wert? Nach einigen Stunden Grübeln griff ich selbst zum Hörer und rief beim Vereinsvorsitzenden an: „Können wir die Sitzung vielleicht übermorgen noch nachholen?“. Mit allen Mitteln versuchte ich, meiner Reputation keine Delle zuzufügen. Dabei war doch klar, dass mir es niemand verdenken würde, wenn ich einfach an meine Grenzen gelangte. Stattdessen baute ich dasselbe Gerüst wieder von vorne auf – und auch übermorgen würde ich es nicht schaffen, es einzuhalten.

Lange wurde all das auf meine Zwangsstörung zurückgeführt. Und klar, das Händewaschen, das Kontrollieren und Sortieren, aggressive und sexuelle Zwangsgedanken, sie waren in ihrer Unverkennbarkeit auch noch immer da. Aber irgendwie schien da etwas nicht zu passen. Ich selbst hatte das Gefühl, dass die Differenzialdiagnostik noch nicht ausreichend durchgeführt worden war. Und so entschied ich mich nach den neuesten Erfahrungen und dem Absturz aus meinem „Ich kann Bäume ausreißen“ und der Frage am nächsten Tag, was ich mit all dem Holz tun soll, eine Spezialsprechstunde für Bipolare Störungen aufzusuchen. Denn aus einer Selbsthilfearbeit lernt man viele Erkrankungen kennen, man bekommt ein Gespür dafür, was mit mir los sein könnte. In mehreren Testbogen bestätigte sich dann, was ich vermutet hatte. Eine bipolare Erkrankung. Im Arztbrief las ich, es handele sich um den
„Rapid-Cycling – Typ“. Und nach einer Recherche war klar, die Ärzte hatten recht. Bis zu fünf Mal pro Woche hatten die Phasen zwischen Höhenflug und Unterwassertauchen letztendlich gewechselt, meine Stimmungen waren teilweise gar nicht mehr so schnell einschätzbar, wie sie sich wandelten. Viele der Auswirkungen daraus mussten meine Eltern ertragen. Und ich war froh, dass nun eine Therapie angesetzt werden konnte, die passgenau auf die Symptome ansprach. Überraschend für alle war der rasche Erfolg einer sich wieder einpendelnden affektiven Schwingungslage, eines angepassten Verhaltens an die Realitäten. Doch damit war es nicht getan. Die Arbeit in der Psychotherapie begann nun erst: Wie viel Selbstwert spreche ich mir zu? Wie definiere ich meine Würde? Wie organisiere ich einen Alltag so, dass er den Ressourcen entspricht, die mir zur Verfügung stehen? Wie viel Arbeit muss ich streichen? Und vor allem: Welche will ich wirklich behalten, welche will ich vielleicht neu hinzunehmen, weil sie meiner tatsächlichen Begabung, meiner eigentlichen Freude entsprechen? Und welchen Sinn gibt es abseits von Können, Leisten und „Dienen“ denn wirklich?

Heute gibt es noch kurze Episoden, drei oder vier im Vierteljahr, kaum zu vergleichen mit dem, was ich ursprünglich erlebt habe. Auch, wenn das erst im Nachgang alles so unwirklich ist. Gerade an die hypomanen Phasen kann ich mich kaum erinnern, gebe nur müßig zu, dass das auch tatsächlich alles so übertrieben war. Allerdings gelingt mein Management besser, mein Tagesablauf ist so geregelt, dass ich ihn gut erfüllen kann – und vor allem danach zufrieden bin. Viele der psychischen Schwachpunkte konnte ich im Gespräch angehen und habe gelernt, dass nicht wenige Charaktereigenschaften auch anerzogen, nicht wirklich genetisch bedingt waren. Das Umfeld, in dem ich aufwuchs, das von Sorgen meiner Eltern über mich geprägt und wie ein Knäuel an Watte auf mich gewirkt hat, trug sicherlich ebenso zu einer Entwicklung bei, die gleichsam Parallelen zu vielen Glaubenssätzen aufweist, die Menschen mit einem geringen Selbstvertrauen, mit dem Erleben von wenig Freiheit und einem erst spät zugestandenen und ausgelebten Verantwortungsbewusstsein haben. Doch daran kann man etwas ändern, wenn man sich neu findet und zu Veränderungen bereit ist, wenn man mit Stress besser umzugehen lernt, aber auch mit Kritik, mit Zurückweisung und empfundenem Unsolidarischsein. Zu erkennen, dass gewisse Haltungen, Gefühle und Reaktionen des Gegenübers menschlich sind und nicht zwingend auf eine einzelne Person bezogen sein müssen, ist eine echte Herausforderung. Anzunehmen, dass man selbst limitiert ist in seinem Einfluss, in seinem Erreichbaren und seinen Möglichkeiten, gleichzeitig aber dennoch wertvoll ist und sich auch im 21. Jahrhundert die Bedeutung eines Menschen nicht an seinen Aufstiegen, Karrieren und nach oben gerichteten Lebensläufen orientiert, auch das war nicht immer leicht. Und doch hat es sich gelohnt, denn auch bipolare Erkrankungen kann man wahrlich in Schach halten – und nicht nur nach oben und unten.

Dennis Riehle