Testikuläre Spermienextraktion

Im Alter von 27 Jahren wurde bei mir die Diagnose eines Klinefelter Syndroms gestellt. Eine Untersuchung mittels Spermiogramms ergab das Vorliegen einer Azoospermie (das Fehlen von Spermien im Sperma) und räumte somit letzte Hoffnungen auf einen natürlichen Kinderwunsch aus. Somit gab es kein Zweifel mehr. Es besteht für mich keine Möglichkeit, leibliche Nachkommen auf natürliche Weise zu zeugen. Ich war wütend, traurig und verzweifelt. Warum gerade ich? Die Einsicht der Unfruchtbarkeit führte bei mir zu einer verminderten männlichen Selbstwahrnehmung. Diese Tatsache hatte (und hat) Auswirkungen auf mein Selbstbild und mein Selbstvertrauen. Eventuell kann eine psychologische Beratung hier weiterhelfen.

Ich erfuhr von der Möglichkeit, eine TESE durchführen zu lassen. Bei der TESE (Abkürzung für Testikuläre Spermienextraktion) handelt es sich um einen operativen Eingriff am Hoden, der in der Regel unter Vollnarkose durchgeführt wird. Bei dieser Operation werden winzig kleine Gewebeproben des Hodens entnommen und anschließend mittels Mikroskops auf das Vorhandensein von Spermien untersucht. Sollten hierbei Spermien gefunden werden, werden diese kryokonserviert, d.h. bei minus 196° C eingefroren und können später mit der Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) Methode für die Familienplanung verwendet werden. Soweit die Theorie.

Praktisch machte ich mir in die Hose. Meine Gedanken bei der Vorstellung, dass jemand meinen Hodensack aufschneidet und mit einer Nadel in meinen Hoden rumstochert, muss ich wohl nicht weiter ausführen. Muss das wirklich sein? Ich wägte meine Optionen ab: 1. Ich mache es und habe eventuell die Möglichkeit trotz meiner Azoospermie leibliche Kinder zu zeugen. 2. Ich mache es nicht und habe keinerlei Chancen leibliche Kinder zu zeugen. Die Entscheidung dauerte keine 10 Sekunden und ich machte einen Termin in der andrologischen Abteilung der Universität in Münster aus. Bei diesem ersten Termin wurden meine Hormonwerte getestet, ein erneutes Spermiogramm erstellt, eine Ultraschalluntersuchung der Hoden durchgeführt, die Knochendichte gemessen und jede Menge Papierkram erledigt. Anschließend erhielt ich einen Termin für die TESE in drei Monaten.

Obwohl ich mir seit mehreren Wochen eine Testosteronbehandlung herbeisehnte, musste ich mich nun doch noch eine Weile gedulden, da eine Testosteronbehandlung die Chancen vermindert, mittels der TESE funktionsfähige Spermien zu nden. Naja, die paar Monate mehr oder weniger mit erniedrigten Testosteronspiegeln machten jetzt auch keinen Unterschied mehr.

Drei Monate später war es dann soweit. Es ist notwendig, dass eine Betreuungsperson (Familienmitglied, Partner/in, Freunde) mitkommt und für 24 Stunden nach der Operation auf die Person aufpasst. Zusammen mit meiner kleinen Schwester fuhren wir also mit dem Auto Richtung Münster. Wir hatten für zwei Nächte eine kleine Wohnung in der Nähe des Operationszentrums gemietet. Am Vortag der Operation erfolgte ein 15-minütiges Aufklärungsgespräch über die bevorstehende Vollnarkose durch einen Anästhesisten. Ich wurde unter anderem darüber informiert, dass ich für die Operation nüchtern sein müsse, also eine gewisse Anzahl an Stunden vor der Operation nichts mehr essen und trinken dürfe.

Tag der Operation: Bereits im Vorfeld wurde ich darauf hingewiesen am Morgen der Operation meine Schamhaare zu entfernen, um die Infektionsgefahr zu verringern. Hierfür hatte ich mir am Vortag eine Enthaarungscreme besorgt, die wider Erwarten ausgesprochen gut funktionierte. Nun war ich bereit und wir fuhren zum Operationszentrum. Ausnahmsweise hoffte ich nicht auf eine grüne Ampelwelle, sondern freute mich wie ein kleines Kind über jede rote Ampel. Alles vergebens, wir kamen trotzdem überpünktlich zum Operationstermin an. Dort wurden wir sehr freundlich empfangen, und ich erhielt ein schlichtes Patientenarmband, auf dem mein Name und Geburtsdatum sowie weitere Informationen abgedruckt waren. In einer Umkleidekabine bekam ich einen Kleidungsspind zugewiesen, entkleidete mich komplett und zog (wie vorher angewiesen) eine bereitliegen- de grüne Netzunterhose an. Anschließend drückte ich auf einen Knopf, um dem Pflege-Team mitzuteilen, dass ich mich umgezogen hatte. Sogleich kam ein ausgesprochen freundlicher Pfleger und holte mich mit einem Bett ab und deckte mich mit mehreren Decken zu. Bereits jetzt erhielt ich eine Schmerztablette, damit ich nach der Operation nicht so starke Schmerzen haben würde. Anschließend lag ich auf dem Bett noch ca. fünf Minuten im Flur herum, bis ich in den Operationssaal geschoben wurde. Hier wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Die Atmosphäre war professionell und freundlich. Jeder stellte sich mit Namen und Berufsbezeichnung vor, was für mich sehr wichtig war. Mir wurde ein peripherer Venenzugang in die Ellenbeuge gelegt. Das dauert einige Sekunden und war nicht schmerzhaft. Anschließend erhielt ich eine Atemmaske über Mund und Nase gesetzt und wurde aufgefordert, bis zehn zu zählen.

Drei Stunden später wachte ich in einem großen und lichtdurchfluteten Raum auf. Das wars schon? Wahnsinn. Ich hatte nichts gemerkt. Ich fühlte mich gut und hatte keine Schmerzen. Ich schaute nach unten, um zu checken ob noch alles dran war. Aber meine Hoden steckten in einem Verband und fühlten sich etwas taub an. Mir wurde sogleich etwas zu trinken und ein paar Kekse gebracht. Nach einer halben Stunde Fernsehen wagte ich mich auf die Toilette. Nach dem Toilettengang erschien der verantwortliche Arzt, und nach einem kurzen Gespräch wurde ich entlassen.

Ich war glücklich und erstaunt, dass ich so gar nichts von dem operativen Eingriff mitbekommen hatte. Ich stellte fest, dass all die Ängste und Sorgen, die ich mir vor der TESE gemacht habe, unbegründet waren. Noch etwas benommen ging ich zum Wartebereich zurück, wo meine Schwester auf mich wartete. In den darauffolgenden Stunden lag ich auf dem Sofa vor dem Fernseher und kühlte meine Hoden mit in Geschirrtüchern eingewickelten Tiefkühlerbsen. Diesen Tipp hatte uns der Arzt gegeben und es funktionierte gut. Den ganzen Tag war ich noch etwas benommen von der Narkose, aber im Großen und Ganzen ging es mir gut und ich hatte kaum Schmerzen. Ich konnte die Nacht problemlos schlafen und stellte mich am Folgetag breitbeinigen Schrittes zur Kontrolluntersuchung in der Andrologie vor. Dort wurde der Verband abgenommen und kontrolliert, ob alles in Ordnung war. Anschließend wurde ich für eine Woche krankgeschrieben. Die kommenden vier Tage verbrachte ich bei meinen Eltern. Ich lag viel im Bett und erholte mich von der Operation. Unter der Einnahme von Schmerzmedikamenten waren die Schmerzen erträglich. Endlich, nach insgesamt 6-monatiger Wartezeit seit Diagnosestellung, durfte ich mit der Testosteronbehandlung beginnen.

Einige Tage später erhielt ich die freudige Nachricht, dass mittels der TESE einige Spermien gefunden worden waren, und diese jetzt kryokonserviert werden würden. Mir fiel ein Stein vom Herzen. All der Aufwand hatte sich also gelohnt.