Neue Erfahrungen durch Alexandertechnik

Als meine langjährige Freundin und ich Kinder haben wollten, es aber nicht zu einer Schwangerschaft  kam, hab ich mich untersuchen lassen. So erhielt ich mit 30 Jahren die Diagnose KS, d. h., es war klar, ich bin zeugungsunfähig.

Ein mir bekannter Sportmediziner machte für mich eine Urin-Serumanalyse für den Testosterongehalt. Mein Testosteronspiegel läge im unteren Bereich, hieß es,  damit könne ich leben, bräuchte nicht substituiert werden.

Niemand hat gefragt, wie es mir damit geht.

Ein anderer Arzt, guter Freund, Internist, meinte, ich solle mal im Pschyrembel über das Klinefelter-Syndrom (KS) nachlesen. OK,  meinte mein Ich. Es stand zu lesen: debil, minderbemittelt und einiges mehr. Die dahinter abgebildeten Gruselfotos sind mir heute noch ins  Gedächtnis gebrannt.

Trifft auf dich also nicht zu, meinte der Internist, Glück gehabt. Sein gut gemeinter Rat: Brauchst auch nix machen, dir geht’s ja gut!

Meine Partnerin trennte sich dann von mir, Trennung wegen KS. Keine eigenen Kinder möglich. Auch eine Adoption war dort in Hessen nicht hinzukriegen. Wir haben es versucht.

Mein Leben insgesamt war immer von extremen Stimmungsschwankungen geprägt.

In den folgenden sieben Jahren wurde ich zunehmend impotent. Auch da habe ich noch lange keinen Zusammenhang mit dem KS hergestellt, ich wußte ja nichts darüber. Es gab noch kein Internet für Jedermann. Die Ärzte wußten selber nichts.

Wegen der anhaltenden erniedrigend empfundenen Impotenz bin ich aber dann doch nach dem Umzug nach Köln zum Urologen. Er hat Andriol verschrieben. Die Pillen brachten keine Besserung, ich blieb impotent und ich lebte weiter mit einer extremen seelischen Hoch-Tief-Achterbahn.

Wenigstens kam ich durch die Unterstützung meiner Schwester wieder im Leben an. (O-Ton „wo es Dir scheiße geht, ist auch egal, komm zu uns“) Das hat gut getan.

Auf einer Party ergab sich die Unterhaltung mit einem Arzt , einem Andrologen. Sein Angebot, zu ihm für eine adäquate Untersuchung in die Praxis zu kommen, nahm ich gerne an. Er bestätigte die Diagnose KS und schrieb mir eine Überweisung zum Endokrinologen. Erst der hat endlich eine Testosteronsubstitution eingeleitet. Da war ich 39 Jahre alt. Ich bin sicher, manches hätte mir erspart werden, hätte leichter gehen können.

Als Grafikdesigner habe ich immer wieder Erscheinungsbilder für Therapeuten gemacht. Oft haben wir gebartert: das heißt, wir haben Leistungen getauscht. Darüber konnte ich viele neue Erfahrungen machen: Körperarbeit, Geistarbeit, NLP …  Oft habe ich im Anschluß an diese Einblicke in diese Disziplinen  Ausbildungen angeschlossen. So war es auch mit der Alexandertechnik (AT) mit Katrin Schmitt.

Ich habe sehr bald gemerkt, dass mir das gut tut. Bei der ersten Begegnung mit Alexandertechnik hab ich Rotz und Wasser geheult. Da passierte so viel Lösung in mir. Ich hab damals gar nicht verstanden,  warum dieses Im-Körper-sich-lösen, auch so eine gute Auswirkung auf psychischer Ebene hat. Aber weil es so war, hab ich auch dort weitergemacht und die  Ausbildung zum AT-Lehrer mit großer Wachheit und Neugier drangehängt.

Über diese Arbeit habe ich gelernt in eine Aufmerksamkeit mit mir selbst zu kommen, die ich bis dahin nicht kannte. Ich durfte mir zuschauen, wie Körperdialog Körperbewußtsein aufbaut. Ich bin mit mir selbst auf ganz andere Weise in Kontakt gekommen, konnte mich neu wahrnehmen und dadurch neu verstehen.

In Kombination mit der alten buddhistischen Meditationsform des indischen Vipassana, auch Achtsamkeits-Meditation genannt, die ich seit 20 Jahren kenne und praktiziere, ist es möglich, mir klarer und auf verschieden Ebenen zu begegnen. Meine Mitte zu finden, dort in meine Ruhe zu finden.

Dann gabelt sich das so: auf Körperebene erfahre ich große Entspannung und bin trotzdem – oder eigentlich deshalb – leistungs- und aufnahmefähiger.

Durch mein langjähriges Fahrradfahren war ich an mir feste, harte, muskuläre Oberschenkel gewohnt: eigentlich war das gefühlt aber verspanntes Muskelgewebe. Es ist langsam weich geworden, allerdings nicht schlapp, eher tonisiert. Dadurch habe ich nie Muskelkater, und selten Krämpfe.

Durch regelmäßiges Alexandertechnik-Praktizieren bin ich körperlich fitter. Ich kann mich anders und besser gebrauchen. Ich hab den Gebrauch meiner Selbst verbessert.

Bin mir mehr darüber bewusst. Bewußt über das WIE der Benutzung meines Körpers. Und ich freue mich, das mehr oder weniger permanent auf „dem Schirm haben“ zu können.

Mit  der AT-Arbeit mache ich die Erfahrung, dass dieses Lernen auf Zellebene auch zu psychischer  Veränderung führt. Das ist spannend, weil ich nun deutlich ausgeglichener bin. Das übliche Sorgenkarussel, der Schiss, ob ich etwas hinkriege, beides stellt sich weniger ein. Ich habe so etwas wie Urvertrauen gewonnen. Fast unverschämt gut fühlt sich das an: eine unmittelbare Erfahrung von Loslassen. Und da mein Körper das immer wieder merken kann, reagiert er darauf zunehmend mit Vertrauen. Dadurch entfaltet sich mein Potential anders. Das überträgt sich auf die psychische Ebene. Da geht das dann auch. Wunderbar, ein Geschenk.

Körper und Geist lernen so durch dieses Lernen in der direkten Erfahrung. Ich vertraue jetzt einfach auf das, was ich tue.

Das ist gravierend neu. In der Schule habe ich anders gelernt: es gibt richtig und falsch. Keine weiteren Optionen. Mein neues Erlebnis ist: es geht so oder so, oder noch anders, als ich’s mir bis jetzt vorstellen kann.

Durch das Leben im Erfahren entsteht eine neue große Freiheit. Der Körper erfährt, der Geist beobachtet und bleibt wach. Dadurch wird er nach und nach immer wacher, beide sind am gleichen Ort, und ich bin mir dessen bewußt, bin Zeuge. Beide sind im Jetzt. Beide werten nicht. Ein Geschenk, dass ich von der AT bekommen habe.

KS heißt: wir müssen die Dinge oft anders machen.

In der Norm aufhalten fällt einigen von uns extra schwer. Ich bin da keine Ausnahme. Über AT gelingt mir, das zu erkennen. Über das Prinzip des Innehaltens habe ich gelernt „Stopp“ zu sagen, auf Reize einfach nicht zu reagieren. Da öffnet sich die Möglichkeit, eine andere Erfahrung zu machen: nicht gelebt zu werden. Nicht durch automatische Reizreaktion fremdgesteuert zu sein von unreflektiertem Altgelernten.

Ein Beispiel ist unsere Klinefelter WhatsApp-Gruppe. Hier gibt es oft Schlagaustausch auf Automatikebene. Inklusive Kriegstoter und Verletzter.

Der größte, weil schnellste Anteil der Reaktion ist der unbewußt emotionale. Innehalten ermöglicht, dass ich die Möglichkeiten überhaupt sehe, wie ich auch noch reagieren könnte. Im Abstand dieses Momentes kann ich erst sehen, dass es vielleicht gar nicht um Angriff und Verteidigung im urmännlichen Spektrum geht gerade. Und gar nicht reagieren gehört immer auch noch zum Spektrum meiner Möglichkeiten.

Was macht die Idee mit meinem Selbstverständnis, dass wir nicht Fehlfarben der Natur sondern Mutanten sind? Dass die Natur im Rahmen der Evolution nach neuen, der Zeit dienlicheren Varianten sucht, den Graben des Nichtverstehens zwischen Mann und Frau hin zum Wir zu überbrücken, auf eine sensorisch feinere Art zu größerer Stimmigkeit hin möglich zu werden und dadurch für eine Gesellschaft – die nicht mehr erfolgreich mit Bären und Tigern kämpfen muß – mit einer neuen feineren Sensorik zur Höherentwicklung beiträgt.

Was macht das mit uns, wenn wir uns nicht mehr als Montagswagen fühlen, bei dem ein Schöpfer mit Restalkohol Mist gebaut hat, sondern wir uns als in einigen Bereichen besser organisierte Prototypen begreifen?

Wer sind wir, wenn wir in einer auf Defizite gestempelten Welt die Möglichkeiten, die Visionen in den Vordergrund stellen, nicht das, was noch nicht ausgereift ist am Prototyp?

Wäre die Verknüpfung untereinander mit dem Verständnis eines WIR im Sinne eines Ameisen oder Bienenstaates, in dem nicht alle Einzelindividuen reproduktionsfähig sein müssen hilfreich, öffnend, entlastend?

Wofür brauchen wir die Unterteilung in männlich und weiblich in dieser Ausschließlichkeit?

Oder darf ich Individuum sein mit vielen Potenzialen, deren Entwicklung es zu unterstützen gilt?

Muß ich mich belasten mit dieser Vorgabe zum entweder-oder oder entscheide ich mich auf Seelen-Ebene für die Variante mich bewußt nicht darüber zu definieren?

Ich bin, wer ich bin, akzeptiere mein so Sein, und bin neugierig, wohin meine Einzigartigkeit mich führt.