Erfahrungen mit dem KS

Klaus, 64 J., heute Rentner

Schon früh spürte ich, dass ich anders war als die anderen.

Spätestens nach dem Schulsport wurde mir das in der Dusche besonders bewusst, dass ich anders war als die anderen. Liegt wohl in der Natur, „jeder Mensch ist anders und sieht auch anders aus“. Auf den einfachen Nenner gebracht, ich habe es mir so erklärt.

Ab dem 12. Lebensjahr wurde es mir richtig präsent, denn der Besuch bei unserer Hausärztin diente dem Ziel, ob ich als Mann auf dem richtigen Weg der Entwicklung war. Nach dieser Begutachtung änderte sich mein Gedankengut radikal.

Mein relatives sorgenfreies Leben änderte sich schlagartig. Über die Jahre war mir immer schon aufgefallen, dass ich schnell „aus dem Häuschen“ war, das Thema Geduld gehörte nicht unbedingt zu meinen Stärken. Mein Bruder nannte mich immer: „Blitzmonteur“.

Meine schulische Laufbahn habe ich mit dem Abschluss der kaufmännischen mittleren Reife abgeschlossen.

Im Erwachsenen-Alter habe ich mehr an dem Thema Geduld gearbeitet, denn im Berufsleben wird es sonst zu schwierig mit dem Arbeitgeber und den Arbeitskollegen. Die Tätigkeit, die ich dann ausübte, machte mir viel Freude, denn ich konnte mich dort sehr gut einbringen. Ein positives Signal für mich, aber es fehlte etwas, das ich mir nicht erklären bzw. zuordnen konnte.

Im Privatleben war ich sehr zurückhaltend. Meine Schüchternheit gegenüber Frauen war sehr groß. Irgendwann habe ich den Mut gefasst, einen Urologen aufzusuchen. Ich wollte abklären lassen, ob ich zeugungsfähig bin. Einige Paare in meinem Bekanntenkreis sprachen viel drüber, dass Kinder zu einer erfüllten Beziehung dazu gehören. Für eine Untersuchung suchte ich einen Urologen auf.  Der Arzt hatte in meinen Augen wenig Empathie. Er tastete meinen Schambereich ab und urteilte abfällig wie folgt, „die Hoden sind klein wie Kirschkerne, eine Zeugungsfähigkeit ist in keinem Fall möglich“. Vor der Arzthelferin, die ich persönliche kannte. Das war mir das sehr peinlich. Ich war sprachlos und schockiert. Mit diesem Ergebnis stand ich nun da. Was nun?

Mein Persönlichkeitsgefühl bekam einen weiteren Knacks. Zurückhaltend lebte ich mein Leben weiter.

Im Alter von 36 Jahren begann ich eine Beziehung mit einer Frau. Ein Jahr lang wurde bereits von einem Kind gesprochen.  Mittlerweile waren zwölf Jahre vergangen, als ich zum letzten Mal bei einem Urologen war.

Ein neuer guter Urologe hatte sich in der Region ansässig gemacht. Wir vereinbarten dort einen Termin. Nach der Untersuchung wurde eine Spermienprobe ausgewertet.  Ergebnis: „Ihre Spermienqualität ist zu niedrig, Sie können nicht zeugen, Sie haben das Klinefelter-Syndrom. Einhergehend mit diesem Syndrom ist Ihr Hormonhaushalt gestört und Sie erhalten ab sofort alle drei Wochen eine Depotspritze mit 250 ml Testoviron.  Das wird Ihnen bei ihren persönlichen Lebensumständen helfen, dass Sie ausgeglichener werden. Ihre Lebensfreude wird sich verbessern. Es kann sein, dass mit der Spritze eine Gewichtszunahme stattfindet, aber mit ausreichend Sport lässt sich das in den Griff bekommen.”

Endlich hatte ich eine Erklärung für „mein Anderssein“.

„Gleichzeitig empfehle ich Ihnen, alle fünf Jahre ihre Knochendichte überprüfen zu lassen. Infolge des Ungleichgewichtes durch das Testosteron besteht die Gefahr einer Osteoporose. Ein Leben in einer guten Partnerschaft ohne Kinder können Sie dennoch führen. Sie werden sicherlich geeignete Alternativen finden.”

Unsere Partnerschaft hielt erstaunlicherweise 13 Jahre. Danach war ich drei Jahre Single.

Mit 51 Jahren begann ein erneutes Glück. Ich lernte eine neue Frau kennen, mit der ich heute glücklich verheiratet bin. Nach zwei Jahren Zusammensein haben wir uns für die Ehe entschieden. Diese Veränderung brachte mich in eine Region, in der ich immer schon gerne wohnen wollte.

Mit meiner Frau habe ich viel über das Klinefelter Syndrom gesprochen. Sie zeigt viel Verständnis für die Problematik. Sie gibt mir auch viele positive Dinge mit auf den Weg.

Jeder Standortwechsel bringt einige Veränderungen mit sich. Hier in der Gegend fand ich einen guten Hausarzt, sowie einen guten Urologen. Der Urologe hat mir nach dem ersten, einfühlsamen Gespräch vorgeschlagen, die Depotspritze von alle drei Wochen auf alle drei Monate umzustellen. Die meisten Patienten kommen mit der Umstellung sehr gut klar. Mein Hausarzt verabreicht mir alle drei Monate die Depotspritze. Damit komme auch ich sehr gut zurecht. Wir haben zum Glück einen sehr engagierten Hausarzt, der sich u.a. mit Kollegen über die Themen mit seltenen Erkrankungen befasst.

Regelmäßig gehe ich zu den Vorsorgeuntersuchungen. Bei den Ärzten finde ich immer ein offenes Ohr.

Nach einem langen Arbeitsleben bin ich froh, dass ich heute im Rentnerdasein angekommen bin.

Jeden Tag kann ich mir frei einteilen, sofern ich dafür bereit bin. Meine Antriebslosigkeit, die ich über die Jahrzehnte hatte, werde ich sicherlich nicht verlieren. Auch dass man schneller erschöpft ist als früher, hängt unter anderem mit dem Alter zusammen.

In den letzten Jahren meiner Tätigkeit in Richtung Rente habe ich oft darüber nachgedacht, wie ich meinen Lebensabend verbringe möchte. Dabei hat mir meine Frau sehr viel geholfen. Wir haben beide viele gleiche Interessen. Die vielfältigen Nachteile, die das Klinefelter-Syndrom mit sich bringt, sind unterschiedlich ausgeprägt. Das Thema der Selbstreflektion hat mir dabei viel geholfen, über das Klinefelter-Syndrom nachzudenken. Das KS ist da und kann auch mittels einer OP nicht wegoperiert werden. Es gehört zu mir, weil es die Natur so gewollt hat. Der beste Weg ist, es zu akzeptieren und möglichst positiv damit umzugehen. Mein Hausarzt sagt dann zu mir, „stehen sie morgens vor Sonnenaufgang auf, gehen in den Wald und setzen sich auf eine Bank. Schließen sie die Augen und achten sie auf die Natur. Sie werden selbst wissen, wann sie ausreichend Kraft gesammelt haben“.

Meine Frau und ich haben uns vor gut sieben Jahren ein Wohnmobil gekauft. Reisen war seit Beginn unserer Beziehung immer ein sehr schönes gemeinsames Hobby. Jetzt im Rentenalter können wir beide ausgiebig diesem Hobby frönen.

Mein Fazit ist: In der Lage sein, sich mit positiven Dingen, vom negativen KS abzulenken bzw. zu akzeptieren, dass es zu einem gehört. Zu erkennen, dass man trotzdem ein wertvoller und liebenswerter Mensch ist. An dieser Aussage muss man jeden Tag arbeiten. Es lohnt sich, denn der Leidensweg wird dadurch gemindert.

(10.05.2022)