Zunächst hatte ich mir vorgenommen, eine Torte zu backen. Mit 20 Kerzen. Immerhin wollte ich meinem Mitbewohner ja eine Freude zu seinem Ehrentag machen. Vor 20 Jahren – zum ersten Mal „Zählen“. Damals hatte ich noch nicht gedacht, dass ich dauerhaften Besuch bekommen würde. Einen eigentlich vollkommen unerwünschten Gast in meinen vier Wänden. Nein, so kann man das nicht sagen, denn auch mein Kopf ist glücklicherweise eher rund statt eckig. Doch das ist egal, eingenistet hat er sich trotzdem. Und das nun seit zwei Jahrzehnten. Der Zwang hat Geburtstag. Doch soll ich da wirklich mitfeiern?
Nein, ein Grund zur Freude ist es wahrlich nicht. Denn würde ich allein die Stunden zusammenrechnen, ich käme auf rund 50 000, in welchen mich der Zwang mittlerweile gefordert hat. Anfangs schien es ja nur wie ein Tic, da hätte es auch sein können, dass nach Ende meiner Pubertät alles wieder vorbei ist. Aber spätestens, als ich erstmalig berichten konnte, 35 000 Pflastersteine auf dem Boden gezählt zu haben, wurde schon deutlich, dass das wohl nichts werden würde mit einem raschen Ende. Ja, man merkt, ich habe es auch heute noch mit den Zahlen. Kein Wunder, denn irgendwann hatte ich meine eigene Technik entwickelt: Länge mal Breite sozusagen – und schon war ermittelt, wie viele Betonklötze den größten Platz in Konstanz zierten.
Ich hatte überlegt, ob ich meinem Zwang ein Geschenk machen sollte, zu seinem Geburtstag. Vielleicht ein paar Flaschen Flüssigseife. Wie viele Liter ich wohl verbraucht haben mag in diesen zwanzig Jahren? Wie viel Wasser durch meine Hähne geflossen ist – nur, weil ich mir selbst nicht vertraut habe, dass die Hände spätestens nach dem ersten gründlichen Waschen auch wirklich sauber gewesen sind. Hätten mich alle Keime und Viren befallen, die ich mir in dieser Zeit vorgestellt hatte, ich wäre bereits nach einigen Wochen tot gewesen. Aber ich lebe noch, was wiederum ein Beweis dafür ist: Zwänge sind die Reaktion auf übertriebene Furcht, auf Zweifel an der eigentlichen Gewissheit, die jeder um mich herum erkennt – nur ich eben nicht.
Ich gebe es zu: Ich bin kein Anhänger der expositorischen Verhaltenstherapie. Aber das nur aus ganz persönlichen Erfahrungswerten. Viel eher habe ich in 20 Jahren der Zwänge eher nachgefragt, was dahinter stecken könnte, abseits von biochemischen Vorgängen im Gehirn, die ich glücklicherweise mit einer seit Beginn rund ein Dutzend Mal gewechselten Zusammenstellung an Präparaten gut beeinflusst habe und feststellen kann, dass ich ohne Arzneimittel heute nicht dort stehen würde, wo ich mit ein bisschen Stolz auch bin. Die Funktion des Zwangs, seinen Sinn zu erkennen, das war Aufgabe in den verschiedenen Therapieformen – von kognitiver Verhaltens- bis zu tiefenpsychologischer Psychotherapie. Und ich bin fündig geworden: Das Thema „Freiheit“ zieht sich durch meine eigene Geschichte. Das Selbstvertrauen – und das jener, die um mich sind. Erwachsen zu werden, Verantwortung zu übernehmen, eigens entscheiden zu dürfen.
Hatte ich in den Spitzen der Zwangserkrankung etwa 20 Stunden täglich mit ihr verbracht, so sind es heute höchstens vier. Das Kontrollieren hat sich auf ein Mindestmaß an Skepsis reduziert, das Sortieren auch. Zufrieden bin ich auch heute noch nicht, wenn etwas verrückt wird, was ich ursprünglich völlig anders angeordnet hatte. Und vor allem die Zwangsgedanken – sie sind weiterhin ein ständiger Begleiter und haben mich gar in manch psychotisch anmutende Situation manövriert. Die Vorstellung von Aggression in meinem Kopf stimmt so gar nicht mit dem überein, was man mir als Charaktereigenschaft nachsagt. Und deshalb sind sie auch so besonders schlimm, waren sie es, die den Leidensdruck teilweise in ein Unermessliches getrieben haben – bis dorthin, dass ich wirklich glaubte, den Zwang mit dem Donnern meines Kopfes an die Wand ausschlagen zu können.
Wenn Gedanken kreisen, immer und immer wieder aufs Neue, dieselben Fragen ständig ins Gedächtnis rufen, ob es denn nun wirklich sein kann, was diese „Tagträume“ in meinem Gehirn abspulen, dann zehrt das an Psyche und Physis. Und da kamen selbst die Therapeuten an ihre Grenzen, denn wenngleich mit mancher Übung eine kurzzeitige Besserung erzielt werden konnte, suchten sich die Zwänge kurz darauf ein anderes Thema, mit dem sie mich neu quälen konnten. „Wie haben Sie es geschafft, auf das Niveau eines Fünftels zu kommen, was ihre Zwänge angeht?“, fragte mich ein Experte vor kurzem. Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht. Und schon gar keine, die sich übertragen lassen würde auf andere Betroffene. Aber natürlich bin auch ich in der Selbsthilfearbeit gefordert, Hinweise zu geben aus meinen Erkenntnissen, die ich über die Jahre hinweg gesammelt habe. Und einen Tipp kann ich dabei nur weitergeben: „Gelassenheit“.
„Der hat gut reden“, werden jetzt Viele sagen. Und das hätte ich auch. Noch vor ein paar Jahren hätte ich jeden ausgelacht, der mit solch einem einfachen Ratschlag zu mir gekommen wäre. Dabei ist es nicht leicht, mit etwas mehr Abstand auf die Zwänge zu blicken. Das ist nur möglich, wenn man den Zwang verstehen kann. Nein, wir müssen nicht Freunde werden. Aber ein erster Schritt war das Ernstnehmen des Zwangs als einen Warnenden. Er hat mir etwas zu sagen, ist ein Botschafter der eigenen Seele, der mir seinen Spiegel allerdings reichlich schräg vorgehalten hat. Nicht das Kämpfen gegen den Zwang, sondern der Versuch, ihn mit Respekt zu behandeln, auch wenn man manches Mal nur losschreien möchte. Ich bin heute überzeugt, dass die Zwänge nicht umsonst sind, sie strafen allerdings in einer Härte, die nicht angemessen ist.
Es würde ausreichen, wenn sie uns wachrütteln. Die Ursachen, zumindest die psychischen, haben wir nämlich manches Mal selbst verschuldet. Oder sie wurden bereits in Kindheit und Erziehung gelegt – und nun müssen wir die Konsequenzen ausbaden. Nein, gerecht ist der Zwang nicht. Aber grundsätzlich halte ich ihn für notwendig, gar für ein bisschen sinnvoll, um uns aufzuzeigen, was wir an unserem Leben ändern müssen. Ich habe genug gefunden, was neu auszurichten ist. Mein Stressmanagement muss ich ändern, meine Perfektion ablegen, mich selbst annehmen mit meinen Schwächen und mit meinen Stärken, die für mich kennzeichnend sind und mir Wertschätzung abverlangen sollten. Denn sind es nicht meistens die, die alles richtig machen wollen, die sich mit vollem Einsatz hingeben für Andere, die ein spezielles Risiko haben, in das Hamsterrad zu kommen?
A propos: Für jeden bin ich da gewesen, aber für mich? „Ja“ gesagt habe ich dauernd, weil ich meinte, die Welt retten zu müssen – zumindest die kleine, die um mich herum immer wieder nach mir rief. So dachte ich es zumindest. Und ich kann es auch niemandem übel nehmen, der meine Hilfsbereitschaft (aus-)nutzte, war ich es doch, der sich beinahe in die Selbstaufgabe trieb, weil er irgendwie davon ausgegangen war, der Einzige zu sein, der all die Herausforderungen seiner Zeit meistern konnte – und gleichzeitig überzeugt gewesen ist, zu nicht mehr geboren worden zu sein, als die Probleme zu bewältigen, die zu lösen sonst niemand Lust hatte. Zwischen Narzissmus und Minderwertigkeit, Zwänge treiben uns emotional in eine Ambivalenz, die mitverantwortlich ist für ihre Dramatik.
Und heute? Ich bin ausgeglichener, weil ich mich nicht mehr so wichtig nehme. Weil ich aber auch erkannt habe, dass nichts von meinen Befürchtungen jemals eingetreten ist, die meine Zwänge mir weiß zu machen versuchten. Ich bin nicht frei von ihnen. Und ich weiß auch nicht, ob ich das jemals sein werde. Aber tatsächlich fühle ich mich mittlerweile wie in einer gut situierten Studenten-WG, in der es manches Mal drunter und drüber geht, in der man sich aber auch hin und wieder daran erinnert, dass noch Nachholbedarf besteht an der Arbeit an sich selbst. Ein Stück Kuchen habe ich mir zum Geburtstag doch noch gegönnt. Der Zwang bekam davon allerdings nichts ab. Vielleicht ist das der größte Erfolg nach 20 Jahren…
Autor:
Dennis Riehle | Selbsthilfegruppe Zwangserkrankungen im Landkreis Konstanz Martin-Schleyer-Str. 27 | 78465 Konstanz | selbsthilfearbeit@riehle-dennis.de