Die Last mit der Lust: Ein Konstanzer lebt ohne sexuelle Begierden

Ulm – Dennis Riehle meint, es muss im Kindergarten gewesen sein, als er feststellte, dass er anders ist. Er habe sich mit anderen Kindern verglichen und entdeckt, „dass ein eher männliches oder weibliches Aussehen bei mir kaum festzustellen waren“. Im Aufklärungsunterricht sei er sich „wie ein Alien“ vorgekommen.

Forscher und Mediziner gehen davon aus, dass es deutlich mehr Geschlechter gibt als „Mann“ und „Frau“, der Variantenreichtum groß ist. Schätzungsweise 1,7 Prozent der Bevölkerung sind Menschen, die sich biologisch weder als ausschließlich männlich noch weiblich definieren lassen. Manche werden mit Hormonen behandelt, zum Beispiel am Hormonzentrum der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin.

Auch Dennis Riehle aus Konstanz befindet sich in Behandlung. Bei dem 36-Jährigen wurde ein Hypogonadismus (Hormondrüsenschwäche) diagnostiziert, deren Ursache das Klinefelter-Syndrom sein kann – eine seltene Chromosomenanomalie, von der in Deutschland zwischen 40000 und 80000 Menschen betroffen sind, zumeist Männer.

Das Klinefelter Syndrom gilt nicht als Krankheit, und doch können Betroffene leiden: Die Hoden sind kleiner, weshalb Testosteron-Mangel auftreten kann – und in Folge dessen eine geringe Körperbehaarung, eine vergrößerte Brust und in manchen Fällen ein Mikropenis.

Das Ulmer Hormonzentrum unterstützt Betroffene und Familien. Und leistet nach eigener Aussage „Pionierarbeit“, wenn es um die „Qualitätssicherung“ in der Versorgung der Patienten geht. Man beteilige sich hierfür an zwei bundesweiten Forschungsprojekten, erklärt Professor Martin Wabitsch, der Leiter des Zentrums.

Aktuell werden rund 100 Patienten aus dem süddeutschen Raum betreut. Die interdisziplinäre DSD-Sprechstunde – DSD steht für „differences of sex development“, auf Deutsch: Varianten der Geschlechtsentwicklung – öffnet einmal im Monat für eine Handvoll Kinder mit ihren Familien ihre Pforten.

„Eine wichtige Aufgabe besteht darin, möglichst früh eine genaue Diagnose zu stellen, um die biologische Besonderheit der Menschen zu verstehen“, betont Wabitsch. „. Hier können wir diese Menschen durch ein hohes Maß an Kompetenz in den Bereichen Genetik, Biologie, Endokrinologie, Psychologie unterstützen und begleiten.“


Ebenen von Geschlecht:

Das biologische Geschlecht umfasst die Ausprägung unserer Geschlechtschromosome, der Hormone, von inneren und äußeren Geschlechtsmerkmalen sowie von sekundären Geschlechtsmerkmalen.
Die Geschlechtsidentität beschreibt unser Selbstverständnis: sehe ich mich selbst als Mann, als Frau, als beides oder ganz anders?
Das Soziale Geschlecht beschreibt, wie wir unser Geschlecht nach außen zeigen. Wie wir uns z.B. verhalten und kleiden, welchen Vornamen wir benutzen.
Die romantische Orientierung beschreibt, ob und in welche Menschen wir uns verlieben, die sexuelle Orientierung ob und welche Menschen wir begehren.


Dennis Riehle, der am Bodensee wohnt, lässt sich zwar an der Uniklinik Freiburg behandeln, diese bietet jedoch eine ähnliche Sprechstunde wie die Ulmer an. Etwa alle neun Monate werde er dort vorstellig, um seinen Hormonstatus checken zu lassen. Es geht auch um psychische Auswirkungen. Denn auch Riehles Seele leidet.

Der 36-Jährige kämpft mit einer „ausgeprägten Depression“. Bereits mit 13 Jahren überkam ihn eine Zwangs- und Angststörung, später kam eine Bipolare Störung hinzu. Auslöser: seine Stoffwechselstörungen und hormonelle Schwankungen.

Unterkriegen lassen will sich Riehle nicht. Er engagiert sich in Selbsthilfegruppen, hat Bücher geschrieben – und vertraut auf Gott. Jedoch nicht mehr in einer Gemeinde, sondern außerhalb der Kirche. Als Grund gibt er an, dass man sich in manch’ kirchlichen Kreisen mit „diversitäts- sensibler Sexualität“ schwertue.

Wenn Neugeborene in den 50er-Jahren kein eindeutiges äußeres Geschlecht aufwiesen, lösten Ärzte dieses „Problem“ brutal: Sie wurden einfach zwangsoperiert. Laut Agnes Bauer, die als Psychologin das Ulmer Hormonzentrum begleitet, habe damals – und teilweise bis in dieses Jahrhundert hinein – die Idee vorgeherrscht, dass man eine solche Abweichung von der binären Norm durch eine Operation „reparieren“ könne und müsse. In den meisten Fällen wurden die Kinder in Mädchen „verwandelt“ – weil dies einfacher gewesen sei, als einen Penis aufzubauen. Solche kosmetischen OPs sind bei Minderjährigen seit vergangenem Jahr verboten.

Dennis Riehle bezeichnet sich als „androgynen, asexuellen Menschen“. Denn: Sex spiele in seinem Leben überhaupt keine Rolle. „Man mag das Impotenz nennen, aber ich leide nicht wirklich unter diesem Umstand, weil ich nie kennengelernt habe, wie es anders sein könne.“

Schon im Alter von zehn Jahren habe er sich gefragt, ob er Mann oder Frau sein möchte – „und wen ich attraktiv finde“. Damals sei es noch darum gegangen, wer neben ihm im Klassenzimmer sitzen soll. „Später war es dann die Frage, ob ich überhaupt lieben und sexuell begehren kann.“ Bis heute fehle in seiner Biografie „eine ernsthafte Auseinandersetzung“ mit seinem sexuellen Charakter. Immer dann, wenn er diesen erspüren möchte, sei da: „nichts“.

Die Herangehensweise der Medizin änderte sich vor etlichen Jahren fundamental. Seit Martin Wabitsch in Ulm die interdisziplinäre DSD-Sprechstunde 2004 initiierte, lautet das Behandlungsziel der Ulmer Ärzte: eine genaue Diagnose zu stellen und dann dem Patienten eine gute Lebensqualität zu ermöglichen.

Wenn ihr Kind das Licht der Welt erblickt, Ärzte und Hebammen jedoch nicht feststellen können, ob das jetzt ein Junge oder ein Mädchen ist, weil nicht klar sei, ob es sich um einen kleinen Penis oder eine große Klitoris handelt, sei das für viele Eltern zunächst „der Horror“, sagt Agnes Bauer. Das Thema sei für sie völliges unbekanntes Terrain und „schambesetzt“. Eltern fühlten sich hilflos, die meisten haben zuvor noch nie vom natürlichen Variantenreichtum der Geschlechtsentwicklung gehört. (Dabei besteht nur selten ein medizinischer Notfall, häufig jedoch ein psychosozialer Notfall.)

Dennis Riehles Alltag ist beschwerlich, er leidet zusätzlich zu seiner Depression unter Diabetes, Osteopenie, Parkinson. Außerdem wurde vor rund einem Jahr ein Lebertumor entdeckt. Doch er kämpft. Obwohl seine Lebensführung „ganz erheblich beeinträchtigt“ sei, laute sein Motto: „Man darf trotz dieser Einschränkungen nicht vergessen, das Dasein zu genießen.“

Seinen ursprünglichen Beruf als Psychologischer Berater und Journalist hat Riehle gesundheitsbedingt aufgeben müssen. Trotzdem hege er „keinen Groll“ gegen sich. Er habe es geschafft, seinen Seelenfrieden zu schließen.

Wie er seine eigene Geschlechtsidentität definiert? „Ich erlebe mich recht eindeutig als Mann“, sagt Riehle, der sich romantisch zum männlichen Geschlecht hingezogen fühlt. Doch er schränkt ein: „Dies geht nicht über eine freundschaftliche und vielleicht platonische Beziehung hinaus – eine sexuelle Begierde gibt es da nicht.“ Deswegen wurde und würde er oft „komisch angeguckt“ – bei Klassentreffen, in der Schulzeit oder bei Projekten, bei denen er junge Menschen über das Klinefelter Syndrom aufklärte. Diese könnten es „oft nicht nachvollziehen“, vollständig ohne sexuelle Lust zu leben.

Agnes Bauer und das DSD-Team begleiten Familien rund um die Diagnosemitteilung. Es müssten viele Informationen vermittelt werden, damit die Betroffenen in die Lage kommen, zu verstehen, „welche Variante der Geschlechtsentwicklung sie betrifft und wie es biologisch dazu kommt“. Aufschluss geben Ultraschalluntersuchungen und Hormonprofile sowie Chromosomenanalysen.

Die mit Abstand größte Herausforderung sieht Bauer in der gesellschaftlichen Tabuisierung. Diese rühre daher, dass wir „von der Gesellschaft und selbst im schulischen Aufklärungsunterricht den Eindruck vermittelt bekommen, es gäbe nur zwei Geschlechter“. Die Psychologin weiß: „Das macht viele Menschen unsichtbar.“

Dennis Riehle pflichtet bei. Wegen seiner „Orientierung“ sei ihm unter anderem der Zugang zum Studium verwehrt worden, „weil ich eben nicht den Anforderungen entsprochen habe, die man von einem Mann meines Alters erwartet hatte“. Was er sagt, klingt, als habe der 36- Jährige einen jahrelangen Prozess der (erfolgreichen) Selbstanalyse hinter sich. „Es ist klar, dass ich nicht den Maßen entsprechen kann, die man sich noch immer als Ziel setzt, um ,schön’ zu sein. Aber das will ich auch nicht. Denn ich habe mittlerweile meine Rundungen und manch’ weibliche Seite an mir als begehrenswert erkannt und möchte diese Eigenschaften nicht mehr zurücklegen.“ Er habe es längst aufgegeben, sich daran zu orientieren, was „man“ von ihm erwartet.

„Wir müssen den Blick weiten“, empfiehlt Agnes Bauer. Die Biologie des Menschen stelle die althergebrachte „binäre Logik“ von Männlein und Weiblein auf den Kopf. Alles fange bei der Befruchtung an, sei letztlich pure Bio-Chemie. Mit dem Ergebnis: dass es neben den meisten Frauen, die zwei X-Chromosomen in sich tragen und den meisten Männern, deren Genmaterial aus XY-Chromosomen besteht, noch viele weitere Chromosom-Varianten gibt.

„Ich selbst finde mich gut, wie ich bin“, sagt Dennis Riehle. Hätte er einen Wunsch frei, würde er sich wünschen, „dass die Gesellschaft es schafft, sich in das Gedankenmodell hineinzuwagen, wonach die klassischen Linien zwischen Mann und Frau zunehmend verschwinden.“ Er fügt an: „Immerhin handelt es sich dabei um Tatsächlichkeiten, jeder 500. hat Klinefelter und könnte mein Nachbar sein.“

Autor: Johannes Rauneker, Schwäbische Zeitung

https://www.schwaebische.de/landkreis/alb-donau-kreis/ulm_artikel,-ein-lebenswertes-leben-ohne-lust-_arid,11487161.html

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