Bericht 4 – Sohn, 2 Jahre

Eigentlich wollte ich nur ein Rezept abholen, als mich die Frauenärztin in der 15. Schwangerschaftswoche zu einem Gespräch bat. Da ich das Geschlecht nicht vorher wissen wollte, aber unwissend das Kreuz auf dem Laborbogen bei den sogenannten „Chromosomenaberationen“ gesetzt hatte, war es eine verzwickte Situation. Die Ärztin erklärte mir, dass etwas Geschlechtsspezifisches auffällig war. Ich kann mich nur noch an Bruchstücke des Gesprächs erinnern, sehr wohl aber an meine vielen Tränen und die Fragezeichen in meinem Kopf. Auf dem Ergebnisbogen stand ein handschriftlicher Vermerk der Leiterin des Labors, welches meine Blutprobe untersucht hatte. Mit der Bitte, mich persönlich bei ihr zu melden, um eingehendere Informationen zu bekommen und bevor ich eine Entscheidung zu einem Abbruch der Schwangerschaft treffe.

Drei Stunden später telefonierten wir. Ich bin bis heute dankbar für dieses Gespräch. Denn da erfuhr ich mehr – von der hohen Unsicherheit des Tests, möglichen weiteren Untersuchungen über die Erkrankung und was sie mit sich bringen kann, nicht muss. Und nochmals der Appell, nichts zu überstürzen. Vor allem nicht mit Blick auf die Ergebnisse eingängiger Suchmaschinen. Damit hatte ich die Zeit zwischen Ergebnismitteilung und Telefonat auch verbracht. Und war erschüttert. Dass es sich um eine zwar wohl häufige, aber nicht gut erforschte Erkrankung handele und dass das bisherige Wissen oft auf klinisch auffällige, d. h. oft extreme Verläufe basiere, war mir alles bis dahin nicht klar.

Alles erschreckte mich, wo doch fast ausschließlich nur über die Größe der Genitalien, Unfruchtbarkeit, extreme, psychosoziale und emotionale Verhaltensauffälligkeiten schon im Kindesalter, einen reduzierten IQ oder schlimme, medizinisch behandlungsbedürftige Erkrankungen im Lebensverlauf geschrieben wurde.

Dass ich mit meinem Schwangerschaftsalter das Risiko erheblich nach oben verschoben haben könnte, vielleicht sogar auch schuld bin – tja, das ist bis heute mein Thema. Dass ich mit dem Schuldprinzip nicht weiterkomme, es nicht nachgewiesen ist und es am Ende auch niemanden hilft, ein anderes.

Ich entschied mich mit meinem Partner gegen weitere pränataldiagnostische Maßnahmen mit ihrem Risiko der Fehlgeburt und mit vollem Herzen für unseren Sohn. Die Schwangerschaft konnte ich aufgrund schlimmer Symptome weniger genussvoll erleben, weniger wegen der im Raum stehenden Diagnose. Ich versuchte mich eingehender zu informieren und landete auf, vor allem amerikanischen, Blogs und Webseiten, auf denen das Syndrom dann Gesichter und Geschichten bekam – nicht schrecklich und stigmatisiert, sondern normale Männer, mit normalem Leben und bis auf einige Aspekte normalem Aussehen. Ich plante rund sieben Monate für den Worstcase und hoffte heimlich bis zuletzt auf die hohe Fehlerquote des Tests. Aber im Herzen und mit jeder Ultraschalluntersuchung wuchs die Sicherheit, so oder so die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Die sichere Diagnose – die Rolle des Wie bei der Befundmitteilung aus der Sicht eines Elternteils

Nach der Geburt haben wir recht schnell Blut abnehmen lassen und einen Termin im humangenetischen Institut der hiesigen Universitätsklinik bekommen. Mit unserem knapp 7 Wochen alten Sohn saßen wir herzklopfend im Beratungszimmer, immer noch hoffend, dass wir zu den Menschen gehören, bei denen der Test falsch „positiv“ angeschlagen hatte. Der Humangenetiker eröffnete das Gespräch zur Befundmitteilung mit „Ach Sie sind hier, weil Ihr Sohn das Klinefelter Syndrom hat. Was wollen Sie wissen?“. Ein Satz, in dem so viel steckt. Dieser Mann hatte uns läppisch, unvorbereitet und maximal unsensibel in einem Nebensatz mal eben die für uns und vor allem unser Kind lebensverändernde Diagnose einer Generkrankung mitgeteilt. Auch das folgende Gespräch zu unserer eigenen Biografie, als Personen und Paar war schlimm. Er ratterte einfach ein Protokoll herunter, das weder zu uns noch zu dem Thema des Termins passte, er machte unnötige Kommentare und am Ende brach ich weinend vor dem Gebäude zusammen.

Keine umsichtige und informierte Mitteilung, kein Mitgefühl, keine Achtung. Immer den Blick auf dieses kleine Wesen, das da vor ihm auf meinem Arm schlief. Am Ende des Tages wurde dann aus tiefer Trauer und Entsetzen die Wut. Ich schrieb eine E-Mail an den Institutsleiter und noch taggleich, abends nach 20 Uhr, hatten wir eine Videoschalte zu der Vorgesetzten des Humangenetikers vom Vormittag. Bis spät abends nach 22 Uhr versorgte sie uns mit Informationen zu der Erkrankung, möglichen nächsten Schritten, hörte zu, relativierte und vor allem organisierte sie uns direkt einen Termin am nächsten Tag bei Frau Prof. Grasemann in Bochum (Centrum für seltene Erkrankungen Ruhr).

Wir sind dieser Ärztin vom Humangenetischen Institut unglaublich dankbar. Dem Arzt, der auf unpassendste und schlechteste Art und Weise diese Diagnose vermittelt hat, wünschen wir, dass er mittlerweile die Einsicht hat, dass sein Beruf mit besonderer Verantwortung einhergeht, wenn es um die Mitteilung der Diagnose einer, im Ursprung nicht zu heilenden, genetischen Erkrankung geht. Es macht so viel aus, wie insbesondere frisch gebackene Eltern davon erfahren und damit auch, wie sie ihr Kind begleiten.

Von Sprachexplosionen, Orientierungskünsten, dem Auge fürs Detail und dem Gedächtnis eines Elefanten

Das Klinefelter Syndrom kann (nicht muss!) schon sehr früh mit Entwicklungsverzögerungen in der motorischen und sprachlichen Entwicklung einhergehen. Auch andere, verhaltensbezogene Probleme können auftreten und manchmal wird uns angst und bange und die Traurigkeit stürzt über uns herein, wenn wir im Rahmen der Elterngruppe des Selbsthilfevereins mitbekommen, mit was für Herausforderungen diese Eltern kämpfen und wie sehr Manches an ihren Nerven, ihren Söhnen und den Familien zehrt. Hier wäre mein Rat an alle Eltern: der Austausch ist toll, richtig und wichtig. Aber manchmal hilft es auch bewusst weg-zu-lesen und sich zu distanzieren, bevor die Angst zu groß wird. Vor allem, wenn man noch einen kleinen Sohn hat. Unser Sohn ist nun 2 Jahre alt. Wir haben bereits drei Besuche beim Centrum für seltene Erkrankungen Ruhr hinter uns und mit bangem Blick immer auf seine Entwicklung geachtet; sowie diese Bereiche besonders gefördert. Aber bisher… nichts.

Sprachlich liegt er sogar vor seinem Alter. Vielleicht liegt diese Freude an der Kommunikation auch daran, dass wir seit seinem 10. Lebensmonat Gebärdensprache verwendet haben, vielleicht ist es aber auch nur Zufall. Er plappert munter wie ein Wasserfall seit seinem 2. Geburtstag und ist sehr kommunikationsstark. Im Moment explodiert sein Wortschatz regelrecht und neue Worte werden quasi nebenher gelernt. Statt „Bagger“ wird z. B. klar unterschieden zwischen „Radlader“ und „Raupenbagger“.

Sicher spielt auch die Kita eine große Rolle, in der er sozial fest eingebunden ist, seitdem er 1,5 Jahre alt ist. Er teilt gern und kennt nicht nur die Namen der Kinder, sondern aller Erzieherinnen und weiß, welche Eltern zu wem gehören. Er bewegt sich auch relativ gern, macht manchmal Yoga. Letzteres hat er in der Kita gelernt und scheint es aktiv als Regulationstechnik anzuwenden, wenn er zu hibbelig ist.

(Fein-)Motorisch passt auch alles, also wie bei den meisten Kindern in seinem Alter zu erwarten wäre. Unser Sohn hat außerdem ein Gedächtnis wie ein Elefant, gepaart mit einem unglaublichen Orientierungssinn und er scheint alles aufzusaugen wie ein Schwamm. Täglich kommen mehr Fähigkeiten zum Vorschein. Und er ist detailverliebt, guckt genau hin und beobachtet sehr gezielt.

Gleichzeitig ist er aber auch extrem reizoffen, was seit seiner Geburt zu schlechten Stunden, Tagen und Nächten geführt hat und immer noch tut, wenn die Tage mit vielen oder aufregenden Aktivitäten gefüllt sind. Bis heute gilt es, eine Balance zu halten. Ob der gute Orientierungssinn, die Detailverliebtheit und die Reizoffenheit mit dem Klinefelter-Syndrom zusammenhängen oder nur Ausdruck seiner ihm ganz eigenen Persönlichkeit ist, wissen wir nicht. Aber wir lernen damit umzugehen, so wie alle Eltern im Laufe der Zeit ihre Kinder kennenlernen und sich auf sie einstellen sollten.

Im Moment sind es nicht die sprachlichen oder motorischen Themen, die uns herausfordern, sondern sein Streben nach Autonomie, seine willensstarken Momente und das, was Kleinkinder in dem Alter eben so tun – nicht immer das, was wir wünschen. Und das soll so sein. Es ist uns wichtig, dass er für sich einstehen kann, Grenzen setzen lernt und weiß, dass er mit allem, was er ist und mit sich bringt, gut und wertvoll und liebenswert ist. Egal, was noch kommt und in welche Richtung sich Klinefelter bei ihm auch entwickelt: er wird dieses Grundvertrauen brauchen in dieser Welt.

Fazit

„Für uns ist wäre eine Botschaft an alle Eltern zentral: belastet Euch und Eure Söhne nicht vorab und früh mit den negativen Seiten, auch wenn es in irgendeiner Form früher oder später gesundheitsbezogene Themen geben wird, die angepackt werden müssen. Sondern feiert alle Erfolge, die das Leben so bringt. Unsere Söhne sind wundervoll und einzigartig.”