Ich kenne KS seit gut 18 Jahren! Der Anruf kam vormittags um 11.00 Uhr vor etwas über 18 Jahren. Am Tag zuvor hatte ich eine Fruchtwasseruntersuchung in der 16 Schwangerschaftswoche machen lassen, denn nach einem rosigen Beginn hatten sich einige Parameter der klassischen Erst-Trimester-Untersuchung schlecht dargestellt. Plötzlich stand so vieles im Raum und wir hatten eine Entscheidung zu treffen, ob wir gegen eine Wahrscheinlichkeit von 148:1 (eine Zahl, die ich nie vergesse) evtl. ein sehr krankes, behindertes Kind bekommen würden.
Demgegenüber stand die Zahl, die vor fast 20 Jahren das Risiko in sich trug, mit einer Fruchtwasseruntersuchung den „Abgang“ eines gesunden Kindes zu riskieren. Diese Entscheidung war für mich im Nachhinein eigentlich die Schlimmste und zog sich wegen der Weihnachtsfeiertage „dankenswerterweise“ fast zwei Wochen.
Wir hatten das große Glück auf einen guten Arzt zu treffen und so entschlossen wir uns, die Untersuchung vorzunehmen. „Wir rufen Sie dann morgen ab 14.00 Uhr an und bitte melden Sie sich vorab nicht bei uns“; mit diesen Worten hatte man uns verabschiedet. Heute weiß ich: wenn etwas nicht stimmt, dann rufen sie in dieser Klinik am Vormittag alle betroffenen Eltern an, um in Ruhe Termine zu vereinbaren.
Nun klingelte es um 11.00 Uhr und mein Mann ging ran. An seinen Worten begriff ich sofort: da stimmt was nicht! Ich hatte das Gefühl, dass mir alles wegsackt! Er legte auf und meinte, es wäre schon mal sicher, dass wir einen Jungen bekommen und er keine Trisomie 21 oder ähnliches hat, sondern das Klinefelter-Syndrom. Nie gehört?! Wie viele Schwangere auch, besaß ich natürlich schon jede Menge Bücher, darunter ein umfassendes Werk zu allen Fragen. In dem letzten Abschnitt ging es um „Diagnosen“. Wir fanden dort einen sehr kurzen (und wie ich heute weiß sehr oberflächlichen) Abschnitt über das Klinefelter-Syndrom. Dort stand: „KS-Männer sind unfruchtbar, KS-Männer sind groß und bleiben ca. 10 % unter der Intelligenz der Eltern“. Kämpferisch meinte ich zu meinem Mann „Na gut, dann ist er immer noch superschlau“.
Da wir sofort in die Klinik zu einem Gespräch mit einer Humangenetikerin kommen sollten, packten wir unsere Sachen, ohne weitere Recherchen anzustellen. Denn tatsächlich hatte man meinem Mann auch am Telefon gesagt, dass wir genau das jetzt unterlassen sollen. Wir sollten vorbeikommen und dann würde man uns aufklären. Dort in der Klinik nahm sich eine unglaublich empathische Frau Zeit für uns.
Wir „müssten jetzt eine Entscheidung treffen und dazu würde Sie uns jetzt beraten“. Ganz ehrlich, die Entscheidung war ganz schnell gefallen. Wir wussten, es wird eine Junge und der hatte jetzt schon einen Namen! Außerdem war ich damals so erleichtert, dass es „nur“ KS ist.
Sie sagte, dass eine Dunkelziffer von ca. 80.000 Männern in Deutschland das KS-Syndrom habe, dass die meisten erst im Rahmen von unerfülltem Kinderwunsch die Diagnose bekommen, dass unser Junge im Laufe seines Lebens Testosteron nehmen müsste, dass er aber vermutlich auch ein sehr ruhiges und liebevolles Kind sein würde.
Sie meinte zu Abschluss, dass sie persönlich findet, dass wir uns richtig entscheiden und wir vorläufig versuchen sollten, die Diagnose zu vergessen. Auch sollten wir nicht unüberlegt anderen davon erzählen, um eine Stigmatisierung zu vermeiden.
Im Sommer wird mein Sohn 18 Jahre. Ich habe diese Entscheidung nicht eine Millisekunde bereut! Und dass, obwohl ich heute natürlich weiß, dass die Schullaufbahn und auch die Ausbildung ein echtes Brett zu bohren sind; dass er sich in vielen Dingen schwerer tut; dass Wutanfälle das Zusammenleben in der Familie beeinträchtigen; dass es manchmal richtig, richtig anstrengend war und ist und ja auch, dass es mir unsagbar leid tut, dass er vermutlich keine leiblichen Kinder haben wird.
Aber ich bin so froh und dankbar, dass mir dieser Teenager täglich auf die Nerven fällt, denn langsam entwickelt sich ein Pfundskerl aus ihm 😊