Mein Sohn ist jetzt 16 Jahre alt und ich stelle mir rückblickend die Frage, ob es wirklich hilfreich war, die Diagnostik schon pränatal erhalten zu haben. Ich habe meinen Sohn stets vor dem Hintergrund des Syndroms betrachtet und wollte ihn besonders „richtig“ erziehen und fördern.
Nachdem ich im Rahmen der Pränataldiagnostik von der Chromosomenstörung erfahren habe, ist zunächst eine Welt zusammengebrochen. Gute Gespräche mit meiner Frauenärztin, mit einer Ärztin aus dem Endokrinologikum und einer betroffenen Mutter haben mich geerdet, denn schließlich kann das Leben eines Klinefelter auch ein Leben lang unauffällig sein und mit der frühen Diagnostik sollten medizinische Risiken rechtzeitig und präventiv begegnet werden können – so unsere Gedanken. Interessant waren die Ansätze der Endokrinologin, die mit ihrer emphatischen Aufklärung Abtreibungsgedanken verhindern wollte. Nach ihren Aussagen sollen Frauenärzte wirklich solche Empfehlungen gegeben haben.
Carl hat einen älteren Bruder, ist aber das einzige, gemeinsame Kind mit meinem neuen Partner. Bei seiner Geburt waren wir beide 35 Jahre alt.
In der Kindheit war Carl ein Sonnenschein, entspannt und es hat immer Spaß gemacht, mit ihm etwas zu unternehmen. Im Gegensatz zu seinem Bruder kam es nicht zu öffentlichen Eskalationen, wenn etwas nicht nach seiner Nase lief. Im Nachhinein denke ich, dass er keine ausgeprägte Trotzphase hatte.
In seiner Freizeit spielt Carl seit 2 Jahren Volleyball, geht gern ins Kino und zockt (leider) mit großer Leidenschaft. Er ist freundlich, zuverlässig und aufgeschlossen. Optisch hat er die typischen Symptome mit langen Armen, Beinen und fehlender Körperspannung. Er ist sehr schlank und groß. Seit knapp 1 Jahr nimmt er das Testosterongel in geringer Dosis.
Auf Vereinstreffen berichten viele Klinefelter, erst später vom Syndrom erfahren zu haben. Den Müttern erschien das Verhalten ihrer Söhne allerdings schon lange vorher auffällig, die Jungs waren „irgendwie anders”. Aber was ist anders? Ist nicht jedes Kind auf seine Art und Weise irgendwie anders? Haben Eigenarten wirklich mit dem Klinefelter Syndrom zu tun? Um diese Frage zu beantworten, habe ich die bekannten Merkmale des Klinefelters auf Carl abgestellt. Hilfreich waren seine Zeugnisse, die noch einmal eine neutralere Einschätzung als wir Eltern abgeben. Durchgängig wurde er als fröhlicher und gut gelaunter Schüler beschrieben.
Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung haben wir keine gesehen. Es gab sogar Entwicklungsphasen, da hat er mit seinem Ausdrucksvermögen und seinem Sprachschatz auf der Tonspur beeindruckt. Carl hat es (bis zum Beginn der Pubertät) geliebt, Hörbücher zu hören. Er verstand es gut, den Inhalt detailliert zusammenfassend wiederzugeben. In seinen Zeugnissen habe ich entdeckt, dass er sich beim ausdruckstarken und fantasievollen Schreiben entwickeln müsste. Das Schreiben langer Texte liegt und lag ihm nicht. Er hatte zeitweilig eine Schreibhilfe, um den Stift richtig zu halten. Das Schreiben als solches hat ihn angestrengt.
Aktuell ist leider ein Stillstand, wenn nicht eher ein Rückgang seines Sprachverständnisses und besonders der Grammatik zu erkennen. Das ist (hoffentlich) seinem unmittelbaren Umgang in der Schule, der momentan vorhandenen Interessenlosigkeit und seiner Zockerleidenschaft geschuldet.
Ich kann auch nicht bestätigen, dass Carl ein niedriges Selbstwertgefühl hat. Immer wieder wurde uns Eltern gespiegelt, dass wir unseren Sohn „verpimpern“ und ihm viel zu viele Dinge abnehmen. Freunde und Verwandte waren teilweise genervt, weil Carl für kleine Erfolge übermäßig gelobt wurde und häufig im Mittelpunkt bei uns stand. Dadurch hat er sich selbst in vielen Dingen überschätzt, auch gern mit Geschenken und sportlichen Erfolgen geprahlt. Unterm Strich hat Carl besonders im Kindergarten- und Grundschulalter eine positive Selbstwahrnehmung im privaten Umfeld entwickelt. In den Zeugnissen der Grundschule gab es jedoch immer wieder die Empfehlung, dass er etwas mehr Zutrauen zu sich selbst haben könnte. Die Einschätzung lag jedoch noch in der altersgerechten Ausprägung. Hier sei erwähnt, dass Carls Klasse in der Grundschule ein überdurchschnittlich hohes Leistungsniveau hatte. Ab der 5. Klasse haben sich seine Selbst- und Sozialkompetenzen verbessert. Objektiv gesehen liegt es vermutlich daran, dass die Mitschüler*innen eher durchschnittlich unterwegs waren.
Negative Erfahrungen hat er bei Gleichaltrigen im normalen Rahmen erlebt. Teilweise gab es in der Pubertät „Sprüche“ von Gleichaltrigen aufgrund seiner Schlankheit und Größe. Auch wenn diese verletzend waren, hat er sie eher weg ignoriert und sich nicht provozieren lassen.
Freunde sind ihm sehr wichtig. Noch immer darf kein Wochenende ohne eine Verabredung vergehen, wobei sich das nicht immer als einfach gestaltete. Carl hatte einen übermäßigen Drang, sich zu verabreden. Meistens war er derjenige, der die Initiative ergreifen musste, damit eine Verabredung zustande kam. Eine Neigung zu sozialer Unsicherheit haben wir hier aber nie gesehen. Einige Freundschaften haben sich verflüchtigt, es haben sich aber auch wieder neue Freundschaften entwickelt.
Bis zur Pubertät war Carl sehr extrovertiert. Bei den ersten Partys seines Bruders war er gern mitten im Geschehen und hat keine Scheu gehabt, auf neue Leute zuzugehen. Jetzt ist er etwas zurückhaltender, weil es manchmal auch schlauer ist, sich nicht in den Vordergrund zu stellen. Auch betrachtet er sich jetzt etwas realistischer und kritischer. So hat er sich vor kurzem eingestanden, dass er kein guter Volleyballspieler ist. Das hat ihn sehr traurig gestimmt (und uns auch). Zu unserem Leid hat er auch ernsthaft in Erwägung gezogen, mit dem Volleyballspielen aufzuhören, weil er in einem Punktespiel schlecht gespielt hat. Momentan macht er aufgrund einer Verletzung eine Pause, aber dann geht es hoffentlich weiter.
Grundsätzlich sind bei Carl aber keine auffälligen depressiven Verstimmungen, die beim KS-ler vorrangig in der Pubertät auftreten sollen, zu erkennen. Er ist eher fröhlich, singt beispielsweise gelegentlich (falsch) vor sich her. Gute Stimmung ist ihm auch innerhalb der Familie sehr wichtig. Fazit: Kontaktarmut, Introversion und Schüchternheit sind bei Carl nicht gegeben.
Als psychologisches Merkmal eines KS-lers wird auch Angststörung aufgeführt. Betroffene zeigen eine erhöhte Neigung zu sozialer Unsicherheit. Auch die sehen wir bei Carl nicht. Als er 15 Jahre alt war, haben wir beispielsweise einen Cluburlaub gemacht und Carl hatte sich vorgenommen, neue Leute kennenzulernen. Demzufolge hat er regelmäßig den Teens-Club aufgesucht, obwohl er die Interessen anderer Jugendlicher nicht wirklich teilte. Dennoch ist er in Aktion getreten und war abends immer unterwegs. Auch war er bzgl. sportlichen Aktivitäten sehr aufgeschlossen, obgleich er z.B. beim Surfen immer wieder vom Board fiel und gar keinen Erfolg hatte. Wir sind nicht ganz sicher, ob er wirklich in die Gruppe integriert wurde oder nur „mitgelaufen“ ist. In dieser Zeit haben wir gemerkt, dass andere Gleichaltrige sich schon anders verhalten und Carl zwar selbstbewusst, aber mit einer gewissen Naivität auftrat. Alkohol, Partys und Mädchen spielen bei Carl bis heute keine Rolle.
Bei Carl gilt immer das Minimalprinzip. Wir Eltern sind beide sehr ehrgeizig, daher erstaunt es uns immer wieder, wie wenig Ehrgeiz Carl zeigt. Schulisch unterstützen wir ihn sehr.
Er hat in der Grundschule eine Montessorischule besucht. An der Schule gab es nur einzügige Klassen, so dass die Schule hinsichtlich der Schüleranzahl sehr überschaubar und gut betreut war. Am Abschiedstag flossen Tränen, denn Carl hat sich an der Schule sehr wohl gefühlt.
Die Lehrerin konnte keine Empfehlung abgeben, ob Carl besser an einer Stadtteilschule oder auf einem Gymnasium aufgehoben ist. Wir haben uns dann für die Stadtteilschule entschieden, obwohl die Schule riesig ist und das Schülerklientel sehr rau miteinander umgeht. Carl hatte jedoch Glück mit seinen Lehrern und Mitschüler*innen. Und auch die Corona-Zeit spielte mit dem Homeschooling gut in die schulische Entwicklung hinein, weil wir diese eng begleiten konnten. Dank seiner Nachhilfe in Englisch und Spanisch erzielt er auch hier mittlerweile durchschnittliche Kompetenzen. Schwierigkeiten bereiten ihm die naturwissenschaftlichen Fächer, da er sich in die Themen mehr hineinarbeiten und mit diesen auseinandersetzen muss. Hinzu kommt das mangelnde Interesse an diesen Themen. Hier fehlt auch die Motivation, sich in Eigenregie mit den Sachverhalten zu beschäftigen, wenn diese sich nicht auf Anhieb erschließen. Vermutlich kommen Klinefelter Charakterzüge durch, da Betroffene oft Schwierigkeiten haben, Informationen schnell zu verarbeiten. Nur durch Nacharbeit könnte er diese Defizite beheben, wozu er keine Muße hat.
Definitiv hat Carl ein Konzentrationsproblem, was auch sein Bruder und ich haben. Er lässt sich auch gern ablenken, weil es vermutlich einfacher ist, als zuzuhören. Ein klassisches Beispiel in der Schule war, dass er der Erste war, der aufspringt, um jemanden einen fehlenden Radiergummi o.ä. zu leihen, wenn dieser einem Mitschüler*in fehlte. Er nimmt vieles um sich herum wahr und lässt sich schnell ablenken. Wir haben von der Heilpraktikerin „Ceres Comp Dau“-Tropfen bekommen, die geholfen haben.
Aber auch in der Rubrik Antriebsarmut gab es gegenteilige AHA-Erlebnisse. Vor einem halben Jahr hat er an einem Wochenend-Volleyballcamp teilgenommen, obwohl er niemanden kannte, einen langen Fahrweg hatte und sehr früh aufstehen musste. Er hatte das Ziel, seine Techniken zu verbessern. Und auch bzgl. eines Referats, welches er per Video aufzeichnen musste, war er offen für Kritik und versuchte die Hinweise in weiteren Versuchen in seinem Video zu berücksichtige. Erstmals habe ich erkannt, dass er sich nicht mit dem Minimum zufriedengeben wollte und in einer eigenständigen „Nachtaktion“ sein Werk überarbeitet hat.
Betroffene KS-ler haben häufig eine erhöhe Schmerzempfindlichkeit. Mit diesem Wissen bin ich stets auch auf kleine Verletzungen eingegangen. Es gab jedoch auch eine Zeit, da hat mich diese Dramatik um Wunden oder Mückenstiche gestört und ich habe dies bewusst nicht beachtet, was letztlich mit kleinen Wutausbrüchen und Vorwürfen, was ich für eine Mütter sei, die ihr Kind nicht tröstet, endete. Das Wort „Schmerzen“ fällt schnell und ich versuche auch jetzt noch drauf hinzuweisen, dass es sich vllt. auch nur um ein unangenehmes Gefühl oder ein Ziehen handelt.
Eine immer wieder verblüffende Fähigkeit ist seine tolle Orientierung und sein räumliches Vorstellungsvermögen. Sobald ich einmal mit Carl im Ort jemanden besucht habe, hat er sich den Weg gemerkt. Auch in diesen Situationen habe ich Carl sehr „gefeiert“, weil ich selbst diese Fähigkeit so gar nicht besitze. Ich habe mehrfach Situationen erlebt, als ich unsicher war, ob ich mit dem Auto in die Parklücke passe oder durch zugeparkte enge Straßen fahren musste. Schon als kleiner Junge hat Carl mich gecoacht und habe mich beim Autofahren sehr sicher mit ihm gefühlt.
Besorgniserregend war seit dem 14. Lebensjahr die Größenentwicklung von Carl. Er hatte so einen krassen Wachstumsschub gemacht und ich fühlte mich bei der Arztwahl nicht mehr sicher, nachdem bei den jährlichen Kontrollterminen beim Endokrinologen immer nur gefragt wurde, wie es in der Schule läuft, wie das Essverhalten ist etc. Auf meine Initiative hin hatten wir anhand seines Handwurzelknochens das Knochenalter bestimmen lassen. Es gab 3 unterschiedliche ärztliche Auffassungen, so dass auch die Größenprognosen um 20 cm (!) variierten. Unsere behandelnde Ärztin prognostizierte eine schöne Endgröße von 1,96 cm, so dass sie von wachstumsbremsenden Maßnahmen absah. Die Situation hatte insbesondere mich psychisch sehr belastet, wollen wir doch das Beste und Richtige für unseren Sohn. Wir wollten auch der Meinung unserer behandelnden Ärztin vertrauen, zumal wir vor der Hormonzugabe großen Respekt hatten. Vereinsmitglieder und ein Professor, den wir um Zweitmeinung gebeten hatten, haben uns sehr die Einnahme von Testosteron als Wachstumsbremse nahegelegt.
Carl selbst hatte in dieser Zeit leider auch einen Nervenzusammenbruch, weil das Gespräch mit dem Professor sehr unsensibel verlaufen ist. Vorurteile, dass es in der Schule „bestimmt nicht so doll laufe“, waren schon kein guter Gesprächseinstieg. Auch die Aussicht, dass Carl in regelmäßigen Abständen Spritzen bekommen solle (bei seiner Schmerzempfindlichkeit), mit Nebenwirkungen wie unangenehmen, wesensveränderten Wutausbrüchen, Akne etc., hat mein Sohn fertig gemacht. Ihn so zu erleben, selbst irgendwie gelähmt, weil ich nicht wusste, was das Richtige ist, haben mich leider auch zu keiner Stütze gemacht – im Gegenteil. Ich habe sicherlich meine Unsicherheit auf ihn übertragen. Glücklicherweise waren mein Mann und mein Sohn Felsen in der Brandung.
Das Thema mit dem Wachstum ist für mich bei der KS-Problematik unseres Sohnes das Schwierigste. Ich habe mich in diese Problematik sehr reingesteigert und nehme gefühlt jeden Millimeter Veränderung meines Sohnes wahr. Das ist nicht gut und nicht richtig, das weiß ich. Dennoch möchte ich mir niemals vorwerfen, im 14. Lebensjahr von Carl eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass es für mich nicht gut war, dass ich vor Carls Geburt von seiner Gen-Variante erfahren habe. Mein Mann kann diese Frage nicht beantworten. Carl selbst haben wir mit 6 Jahren „aufgeklärt“. Er weiß, dass er keine eigenen Kinder haben kann. Hier denken wir, dass es gut ist, dass er von Anfang an informiert war und nicht irgendwann davon erfährt.